Seite - 215 - in Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
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auf differenzierte Weise als „Bewältigungsroman“83 der NS-Vergangenheit in
Form einer Liebesgeschichte zwischen einer zum Tode verurteilten Aufseherin
eines Konzentrationslagers und einem emigrierten jüdischen Besatzungsoffizier
widmet, hat Kraus eine Rezension verfasst. Als ein „außerordentliches, ein schwie-
riges Buch“ bezeichnet Kraus den Roman, das Thema „ist von einer provokan-
ten Kühnheit, die als vermessen oder eben als Ansatz zu einem großen Wurf
gelten“ könne. Die zeitgeschichtlichen Hintergründe bleiben in der Besprechung
unerwähnt, Kraus spricht aber davon, dass der Leser bzw. die Leserin „hier einen
neuen Autor von Eigenwert vor sich“ habe, der „den Mut zeigt, seine Wahrheit
zur Feuerprobe ihrer bedingungslosen Geltung in eine Situation von gewagtes-
tem Extrem zu stellen, der ein hohes menschliches Ziel, festen Zugriff und schar-
fen Kunstverstand beweist. Sehr viel – und vielleicht ist es die Gleichzeitigkeit
alles dessen, die noch kompakte Unausgeglichenheit aller dieser Vorzüge, die
dem Werk jene Vollendung verwehrt, zu der es ansetzt.“84
In den 1980er Jahren, als das Thema „Verdrängung“ der Zeit von 1938 bis
1945 sowie Österreichs Mitverantwortung am Zweiten Weltkrieg virulent und
der durch die Moskauer Deklaration gefestigte „Opferstatus“ des Landes frag-
würdig und verstärkt öffentlich debattiert wurde – vor allem durch die Kontro-
versen um Bundespräsidenten Kurt Waldheim –, interpretierte Kraus dieses
Aufbrechen der Gegensätze eben als einen Generationenkonflikt: „Früher ein-
mal war von einer ‚45er Generation‘ viel die Rede […]. Sie bestand aus jenen
Menschen, die jung in den Krieg geworfen worden und 1945 mit schrecklichen
Erlebnissen zurückgekommen waren. Später traten die ‚68er‘ auf, und die meist
von dieser Generation getragene westliche Kulturevolution wird der heutigen
Jugend noch lange zu schaffen machen. Darüber wurden die ‚45er‘ vergessen –
bis sie durch die rapide Verschlechterung des Österreich-Bildes im Ausland,
plötzlich wieder ins Blickfeld rückten.“85
Hinsichtlich des Aspekts der Verdrängung postuliert Kraus vehement, dass
in der Literatur der Nachkriegszeit durchaus eine „Aufarbeitung der Nazijahre“
stattgefunden habe: „Warum wird heute verdrängt, daß man damals nicht ver-
83 Kurt Bartsch: Vergangenheitsbewältigung. Kritische Durchleuchtung der Provinz. In: Žmegač
(Hg.): Geschichte der deutschen Literatur. Bd. III/2, S. 790-800, hier S. 793; Vgl. Jörg Thune-
cke: „Zu den Feinden zählt ohne Zögern sie nicht“ oder die Thematisierung der Feindesliebe:
Erich Frieds Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus im Roman „Ein Soldat und ein
Mädchen“. In: Echo des Exils. Das Werk emigrierter österreichischer Schriftsteller nach 1945.
Hg. von Jörg Thunecke. Wuppertal: Arco Verlag 2006, S. 139–154.
84 Wolfgang Kraus: Die Schuld sucht lebendige Opfer. In: Die Presse, 25.
September 1960; Kölner
Stadt-Anzeiger, 24.
September; St.
Galler Tagblatt, 8.
Oktober; Aargauer Tagblatt, 12.
Novem-
ber; General-Anzeiger Bonn, 4. November; Der Tag, 21. Februar 1961; Augsburger Allgemei-
ne, 25. März 1961.
85 Wolfgang Kraus: Wer verdrängt? In: Die Furche, 24. April 1987, S. 11.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Kraus als Literaturvermittler 215
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437