Seite - 217 - in Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
Bild der Seite - 217 -
Text der Seite - 217 -
der durch Jahrhunderte entstandenen Strukturen sprengen den Einzelnen von
jeglicher Kontinuität ab. Daher: sich erinnern! Suchen und wiederfinden!“90
Dieses Wiederfinden einer Tradition, um die es Kraus immer wieder in seiner
Beschäftigung mit Literatur zu tun war, birgt ein religiöses Moment mit sich, im
Sinne des „religio“, der „Rückbindung“, und Kraus trat vehement für eine katho-
lische Literatur ein.
Ein Vortrag mit dem Titel „Die österreichische Literatur und die Katholische
Kirche“, der sich als Typoskript im Nachlass erhalten hat und vermutlich im Mai
1967 vor katholischen Würdenträger gehalten wurde, fasst die Entfremdung
zwischen Kirche und Literatur im österreichischen Einzugsbereich aus Kraus’
Perspektive zusammen. Vor welcher kirchlichen Institution Kraus dieses Referat
gehalten hat, ließ sich allerdings nicht rekonstruieren. Kraus versuchte hier
Impulse zu liefern, der zunehmenden Entfernung zwischen Kirche und Litera-
tur entgegenzuwirken bzw. Vorschläge zu liefern, wie die literarische mit der
kirchlichen Sphäre zu verbinden sei. Kraus konstatierte aus einer literaturge-
schichtlichen Perspektive, dass in den 1950er Jahren noch die Aussicht bestan-
den habe, dass „die künftige Literatur in Österreich […] ihre Kraft aus einem
Erlebnisbereich“ habe schöpfen können, der „erheblich von religiösen Momen-
ten bestimmt oder beeinflußt war“, wobei sich jedoch ein „grundsätzlicher Wan-
del“91 vollzogen habe. Kraus führt den Wiederaufbau und den damit einherge-
henden Wohlstand sowie die sozioökonomische Situation der österreichischen
Autorinnen und Autoren, die Kommerzialisierung der Literatur selbst, auf bun-
desdeutsche Einflüsse zurück, die er an „Linkstendenzen“ festmachte sowie auf
literaturpolitisch anders gearteten Positionen, wie etwa jene der „gesellschaftli-
che[n] Notwendigkeit“ der Kommunisten, die an Bedeutung gewannen und
„religiös gelagerte Grundprobleme“ verdrängten.92 Aber auch Versäumnisse
innerhalb der Kirche selbst macht Kraus für diese Entwicklung verantwortlich,
wie etwa die öffentliche Wahrnehmung derselben als antiintellektuell, und kommt
zu dem Schluss, dass die Kirche „und ihr nahestehende Institutionen“ für „die
heutigen Autoren überhaupt nicht merkbar in Erscheinung“ getreten seien.
Katholische Verlage wie Herold, Otto Müller, aber auch Styria hätten an „Stoß-
kraft, Aktivität und Ansehen verloren“. Kraus’ Maßnahmenkatalog für die Kon-
solidierung zwischen Kirche und Literatur enthält einige Vorschläge, die sich,
so führt er aus, einfach umsetzen ließen und „der stagnierenden österreichischen
Literatur neue Impulse“ liefern würden. Als Maßnahme, die zu ergreifen wäre
und als Voraussetzung dienen würde, nennt Kraus die Dialogbereitschaft der
Kirche. Diese solle „einigermaßen nahestehende Persönlichkeiten des literari-
90 Ders.: Tagebuch, 26. Jänner 1971, NL WK.
91 Wolfgang Kraus: Die österreichische Literatur und die Katholische Kirche, ms. Ts., ebd.
92 Ebd.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Literatur und Katholizismus 217
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437