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Geschehen zu folgen und sich an manchen erratischen Blöcken vorbei den Weg
zu bahnen“, und kaum jemand „die Bedeutung dieses Romans übersehen“176 wer-
de können (vgl. dazu Kapitel 3.5). Als Canetti 1981 den Nobelpreis erhielt, wür-
digte Kraus ihn in einem Artikel, der den Hinweis enthielt, dass dieser trotz sei-
ner Abwesenheit in Wien „immer präsent war“ und es „zur tragischen realen
Heimatlosigkeit“ Canettis gehöre, dass er „nie einen österreichischen Pass“ gehabt
habe; und er vereinnahmte ihn für Österreich: „Nun, er ist als Schriftsteller im
geistigen Sinn sicher Österreicher, und es ist gerade angesichts des schrecklichen
Geschehens von 1938 eine große Ehre für Österreich, daß Elias Canetti den Nobel-
preis für Literatur erhalten hat.“177 Im April 1983 wurde an der Universität Posen
eine dreitätige, von der ÖGL inspirierte, und Stefan H. Kaszyński organisierte,
repräsentative Tagung zu Ehren Canettis veranstaltet, die Fragen der Anthropo-
logie und Poetik in seinen Werken behandelte.178
Auch Thomas Bernhard zählte zu denjenigen Autorinnen und Autoren, die durch
Kraus Förderung erfuhren, wobei die Bekanntschaft mit ihm bis in die 1950er
Jahre zurückreichte. Bernhard hatte sich bei Kraus, als dieser noch beim Paul-Zsol-
nay-Verlag gearbeitet hatte, „als Enkel unseres Bestsellerautors Johannes Freum-
bichler“ vorgestellt, „um die Werke seines Großvaters Johannes Freumbichler
an den Verlag zu vermitteln“.179 Kraus begleitete Bernhards Neuveröffentlichun-
gen stets mit Besprechungen, über Verstörung (1967) etwa kommt er zu dem
Schluss, dass bei „kaum einem anderen deutschsprachigen Schriftsteller“ der
Leser bzw. die Leserin einem „solch unbedingten Ernst, eine[r] solch harte[n]
Konfrontation mit dem Tod und seiner Allgegenwart begegnen“.180 Den Roman
Das Kalkwerk (1970) empfand er sogar als Bernhards „reifstes, ruhigstes und
am besten ausgewogenes Werk“: „Als Kunstwerk ist es wirksam, intensiv, zwin-
176 Wolfgang Kraus: Eine bedeutende Wiederentdeckung. In: Die Presse, 10./11.
August 1963; die
Rezension erschien unter verschiedenen Titeln in Stuttgarter Zeitung, 27. Juli; Kölner Stadt-
anzeiger, 31.
August; Wetzlarer Neue Zeitung, 5.
September; Hannoversche Allgemeine, 12.
Okto-
ber; Tages-Anzeiger Zürich, 19. Oktober; Badische Neuste Nachrichten, 7. Dezember; Saar-
brücker Zeitung, 21. Dezember; Wiesbadner Kurier, 5. Dezember 1963 sowie Düsseldorfer
Nachrichten, 28. Dezember.
177 Ders.: Geistig hat er Wien nie verlassen. Der neue Literatur-Nobelpreisträger Elias Canetti ist
ein Kosmopolit. In: Die Presse, 16. Oktober 1981.
178 Roman Dziergwa: Zur Geschichte und zum wissenschaftlichen Ertrag der bi- und multilateralen
Konferenzen des Instituts für Germanische Philologie der Posener Universität. In: Studia Germa-
nica Posnaniensia XXV (1998), S. 3–12, hier S. 6
f. Vgl. Stefan
H. Kaszyński (Hg.): Die Lesbarkeit
der Welt: Elias Canettis Anthropologie und Poetik. Poznań: UAM 1984. Eine Gemeinschaftsaus-
gabe erschien bei Carl Hanser unter dem Titel „Elias Canettis Anthropologie und Poetik“.
179 Ders.: [Faksimile]. In: Murray G. Hall: 70 Jahre Paul Zsolnay Verlag, 1924–1994. Wien: Zsol-
nay 1994, S. 12–13, S. 12.
180 Ders.: Die Schule des Todes. Thomas Bernhards „Verstörung“. In: St.
Galler Tagblatt, 11.
Juni 1967.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Der Literaturkritiker Kraus 237
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437