Seite - 239 - in Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
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truktion liegt, total verschrieben“ habe und „kalte ästhetische Demagogie unter
totaler Negation jeglicher Verantwortung“188 ausübe.
Wenn Kraus auch keine Besprechungen über die Neuerscheinungen experimen-
teller österreichischer Autorinnen und Autoren verfasste, bedeutet dies nicht,
dass er sie nicht doch, wenn auch eher vereinzelt, gefördert hat. So ließ ihn Ernst
Jandl wissen, dass er „vom Bundesministerium für Unterricht ein Stipendium
in der Höhe von S[chilling] 6000.–, das es mir ermöglicht, im Mai nach England
zu fahren“, erhalten hatte und dankte Kraus „herzlich für Ihre Befürwortung
meines Ansuchens“.189 Mithilfe dieses Stipendiums konnte Jandl zum legendär-
en „Poetry Festival“ im Juni 1965 in der Royal Albert Hall wo er neben den
Beat-Dichtern Allen Ginsberg und Lawrence Ferlinghetti vor 7.000 Zuschauern
auftrat und mit seinen onomatopoetischen Gedichten wie Am Anfang war das
Wort, schtzngrmm und Ode an N das Publikum überzeugen konnte und in Eng-
land sozusagen über Nacht zum Popstar avancierte.190
Ebenso profitierte Peter Handke von Kraus’ Einfluss auf Stipendien- und Preis-
vergaben, vereinnahmen ließ er sich allerdings nicht und wahrte kritische Distanz
zu seinem Förderer. Zu einer Annäherung zwischen Kraus und der Literatur Hand-
kes kommt es in der ersten Hälfte der 1970er Jahre, die in knapp zwei Dutzend
Briefen und zirka 50 Postkarten im Nachlass von Kraus dokumentiert ist, die Hand-
ke an ihn, darunter auch von zahlreichen Reisen, geschrieben hat. Gegenüber Manès
Sperber hatte Kraus 1970 noch bemerkt, dass die „Figuren der ‚jungen Literatur‘“,
womit er neben Handke auch Wolfgang Bauer und Ernst Jandl meinte, „derart aso-
zial bis anarchistisch“ leben würden, dass die ÖGL und er selbst „für sie überhaupt
kein Bezugspunkt“ seien: „Es handelt sich um eine Schar abenteuernder Glücks-
ritter, hochbegabt, jedoch oft mehr dem Showbusiness zugehörig als der Literatur.
Jedenfalls ohne jegliche Verpflichtung irgendjemand gegenüber […].“191
Aber bereits zwei Jahre später verlautbarte Kraus, dass bezüglich der Ten-
denzen in der neueren österreichischen Literatur die „Phase des Experimentie-
rens zu Ende gehe“ und „wir uns einer Zeit der Ernte nähern. Erstaunlicher-
weise bei Handke – ‚in fast klassischer Form‘.“192 Handke, der in den 1960er
Jahren „meist als Formalist, wenn nicht als ‚Formenzertrümmerer‘ bezeichnet“
wurde, hatte in seinem Erstlingsroman Die Hornissen (1966) die „lineare Orga-
188 Ders. an Peter Handke, 1. November 1986, Literaturarchiv der österreichischen Nationalbib-
liothek, ÖLA SPH/LW Sammlung Peter Handke / Leihgabe Hans Widrich [im Folgenden zitiert
als Leihgabe Widrich].
189 Ernst Jandl an Wolfgang Kraus, 14. März 1965, ÖGL-Archiv.
190 Vgl. Bernhard Fetz: Ernst Jandl. In: Ursula Heukenkamp (Hg.): Deutschsprachige Lyriker des
20. Jahrhunderts. Berlin: Schmidt 2007, S. 429–438.
191 Wolfgang Kraus an Manès Sperber, Dezember 1970, NL WK.
192 Peter Wolf: Trend zur stärkeren Realitätsnähe. In: Kleine Zeitung, 11. November 1972.
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Der Literaturkritiker Kraus 239
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437