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nisation des Erzählens zerbrochen, doch nicht, wie experimentelle Autoren
dieser Zeit, [um] mit dem Erzählen Schluß zu machen, sondern in eher kathar-
tischer Absicht“.193 Die Wende zum Erzählen, die von der Literaturkritik mit
den Romanen und Erzählungen am Beginn der siebziger Jahre konstatiert wur-
de, bedeutete für Handkes Schreiben jedoch nicht, dass die „Errungenschaften
der sprachanalytischen Texte aufgegeben“ wurden, vielmehr waren diese Teil
„eines stärker auf das Ich und seine Veränderung zielenden Schreibens“,194 und
die Wende zu Handkes klassischer Erzählhaltung, die er in der Tetralogie Lang-
same Heimkehr (1979–1982) vollzog, bereitete sich bereits durch den Bildungs-
roman-Rekurs in Der kurze Brief zum langen Abschied vor. Kraus hatte dies
sofort bemerkt und in der Rezension des Romans festgehalten, dass das Buch
„das Erlebnis unserer siebziger Jahre“ sei, „aber es besteht in der Kontinuität,
in der Tradition“ und schöpfe dabei aus dem „europäischen Erleben“: „Die Stim-
mung erinnert an Werke der deutschen Romantik. Die Art des Erzählens ist
freilich rationaler, genauer und sehr viel kühler – das und die scharfsichtige
Beobachtung der Papier- und Blechwelt made in USA bringen die zeitgenössi-
sche Frequenz, man kann sicher sein, daß die Erwartungen der Jugend damit
erfüllt werden.“195 Handkes Reise in die USA hatte sich einem Programm zu
verdanken, für das Kraus verantwortlich war. In den 1970er Jahren bemühte
sich Kraus in Kooperation mit Unterrichtsminister Alois Mock, den Kulturin-
stituten sowie der ÖGL darum, österreichische Autorinnen und Autoren auf
Auslandsreisen zu schicken: „Die Idee war, daß jeden Autor ein mit ihm befreun-
deter Germanist begleiten sollte: so reisten Thomas Bernhard mit Hans Rochelt
nach Italien, Peter Handke mit Alfred Kolleritsch durch die USA, Elias Canet-
ti durch Jugoslawien […].“196 Der kurze Brief zum langen Abschied entstand eben
unter dem Eindruck jener Lesereise durch die USA, die Handke zusammen mit
seiner Frau Libgart Schwarz und Alfred Kolleritsch vom 24.
April bis zum 18.
Mai
1971 unternommen hatte.197
Von Handkes und Kraus’ enger Beziehung zeugen nicht nur die erhaltenen
Korrespondenzen, sondern auch die zahlreichen Besuche, etwa in Clamart bei
193 Christoph Bartmann: „Der Zusammenhang ist möglich“. Der kurze Brief zum langen Abschied
im Kontext. In: Raimund Fellinger (Hg.): Peter Handke. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985 (= stm
2004), S. 114–139, hier S. 115.
194 Hans Höller: „Bruch“ und „Wende“. Zu einer Schreibbiographie Peter Handkes. In: Renata Cor-
nejo, Ekkehard W. Haring (Hg.): Wende – Bruch – Kontinuum. Die moderne österreichische
Literatur und ihre Paradigmen des Wandels. Wien: Praesens 2006, S. 195–209, hier S. 203.
195 Wolfgang Kraus: Moderne Romantik. In: Südost Tagespost, 27. Mai 1972.
196 Kraus: Zwischen Trümmern und Wohlstand. In: Zeman (Hg.): Geschichte der Literatur in
Österreich. Bd. 7: das 20. Jahrhundert, S. 633.
197 Vgl. Christoph Kepplinger: Der kurze Brief zum langen Abschied. Entstehungskontext. URL:
http://handkeonline.onb.ac.at/node/1436 [zuletzt aufgerufen am 15.1.2020].
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
240 Wolfgang Kraus und die österreichische Literatur
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437