Seite - 243 - in Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
Bild der Seite - 243 -
Text der Seite - 243 -
tes in einem Referat ausführte. Die von ihm apostrophierten Werte standen
einem „ungeheuren Zunehmen des Irrationalismus“ gegenüber, den er etwa in
den Werken der „Wiener Gruppe“ realisiert sah, für ihn eine Art „5. Kolonne“,
die „durch die ganze Welt geht“.212 Zwar bejahte Kraus „diese Kunst im Sinne
einer Materialerstellung für Kommendes“, wies auf ihre kulturgeschichtlichen
Wurzeln hin und sprach sich grundsätzlich für eine Auseinandersetzung mit
sprachexperimenteller Literatur und Avantgarde aus, „bei aller Abneigung, die
wir vielleicht dagegen haben“,213 aber in seiner Tätigkeit als Literaturkritiker hat
diese Form der Literatur wenig bis kaum Beachtung gefunden. Kraus präsen-
tierte sich als ein Exponent des Ausgleichs, was die literarischen Strömungen in
Österreich betraf, der verhindern wollte, dass die von der avantgardistischen
Literatur eingenommenen Extrempositionen andere Richtungen, denen er bei
weitem näherstand, verdrängten: „Man darf nicht sagen, mir paßt der Peter
Handke oder der Ossi Wiener nicht, ich bevorzuge Stefan Zweig, infolgedessen
kommt bei mir auch nur das zum Zug. Man muß das, was die Zeit hervorbringt,
zu Wort kommen lassen, muß aber alles so abstimmen, daß auch andere da sind,
daß dem Publikum die Möglichkeit gegeben wird, sich mit Verschiedenem aus-
einanderzusetzen.“214 In der Theorie und aus seiner Perspektive als Akteur inner-
halb des literarischen Felds mag Kraus eine pluralistischere Meinung vertreten
haben als in seiner literaturkritischen und -vermittelnden Praxis deutlich wird.
Zusammenfassend sei bemerkt, dass sich an Kraus’ Tätigkeit als Literaturkri-
tiker, seinen literarischen Präferenzen und seiner Bewertung im Zuge der lite-
raturkritischen Praxis eine Tendenz abzeichnet, die zwar eine österreichische
Literatur in ihrer Pluralität wahrnahm, aber grundsätzlich Schreibweisen favor-
isierte, die sprachliche Experimente vermied. Dies schloss aber keineswegs Auto-
rinnen und Autoren aus, die in ihren Werken an die Moderne anschlossen, wie
etwa Elias Canetti und auch jene Autoren, die einer Traditionslinie zwischen
Fritz von Herzmanovsky-Orlando und Heimito von Doderer folgten,215 darun-
ter Peter von Tramin, Peter Marginter, Peter Daniel Wolfkind und Matthias
Mander, die in ihren Werken Elemente des Fantastischen miteinbezogen. Trotz
angestrengter Versuche, diese Autorinnen und Autoren auch im Ausland bekannt
zu machen, fand die österreichische Avantgarde, die ehemaligen Mitglieder der
„Wiener Gruppe“ oder die sogenannte Grazer Gruppe dort mehr Beachtung.
Auch ein Autor wie Herbert Eisenreich, der „gegen die gescheiterten, weil form-
losen und veralteten, philosophisch-psychologischen Romanexperimente“ von
212 Ders.: Fortbildungsseminar für die Beamten des Auslandskulturdienstes, ms. Ts., ÖGL-Archiv.
213 Ebd.
214 Ebd.
215 Vgl. Dietmar Goltschnigg: Erzählprosa. In: Žmegač (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur
vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd. III/2, S. 725–746, hier S. 734.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Der Literaturkritiker Kraus 243
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437