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Musil und Broch eine „Traditionslinie des formvollendeten, als ‚heiles Gegen-
Bild‘ zum Chaos der Welt verstandenen Roman von Stifter über Gütersloh bis
Doderer“216 ausspielte, stand in Kraus’ Bewertung höher als etwa die experimen-
tellen Texte eines Ernst Jandl.
Dagegen war der Erfolg der von ihm protegierten Autoren wie Elias Canetti
und Manès Sperber, die beide in den 1960er Jahren internationale Anerkennung
erlangten, graduell auch an Kraus’ literaturvermittelnde Tätigkeit gebunden.
Problematisch mutet Kraus’ teilweise nivellierender Umgang mit der österrei-
chischen Literatur an, vor allem da er den einander entgegengesetzten literari-
schen Strömungen in seinen literaturkritischen Arbeiten zu wenig bis gar nicht
Rechnung trug. Stellvertretend für seine Vereinheitlichung literarischer Tenden-
zen seit 1945 sei auf das sogenannte Fest der Harmonie hingewiesen, wie Hans
Haider dieses Zusammentreffen von „‚NS-Verfolgte[n] und Mitläufer[n]‘, Neo-
klassiker[n] und ‚Sprachzertrümmerer[n]‘ mit politischen Präferenzen zwischen
christlich-konservativ und kommunistisch“217 auf Einladung von Kraus-Intimus
Josef Klaus im Bundeskanzleramt am 20. Februar 1969 ironisch genannt hat.
Kraus hatte diesen Auftritt der wichtigsten Akteurinnen und Akteure des Lite-
raturbetriebs organisiert:
Thomas Bernhard plauderte charmant und angeregt mit Josef Klaus, Wolfgang
Bauer, Alfred Kolleritsch, Hilde Spiel standen neben Friedrich Torberg, Franz Nabl,
Max Mell, Alexander Lernet-Holenia, Felix Braun, Franz Theodor Csokor neben
Herbert Zand, Friedrich Heer, Ernst Jandl und Friedericke Mayröcker. Im weißen
Hosenanzug unterhielt sich Ingeborg Bachmann mit Christine Busta, Hans Lebert
war hier, Barbara Frischmuth, Andreas Okopenko, Fritz Habeck, Milo Dor, Otto
Grünmandl.218
Insofern kann Kraus, der stets darum bemüht war literaturbetriebliche Konflik-
te zu vermeiden, als Proponent eines literaturpolitischen Konsens gelten, der als
„sozialpartnerschaftliche Ästhetik“ in die Literaturgeschichte eingegangen ist.219
216 Ebd., S. 730.
217 Hans Haider: „Der Kartonismus“ 1965. Ende und Wende. Ein Streifzug durch die Literatur-
und Kulturpolitik der Zweiten Republik. In: Stefan Karner (Hg.): Österreich – 90 Jahre Repu-
blik. Beitragsband der Ausstellung im Parlament. Innsbruck, Wien, Bozen: Studien-Verlag
2008, S. 421–428, hier S. 427.
218 Ebd.
219 Vgl. Robert Menasse: Die Entwicklung des österreichischen Literaturbetriebes und seine Struk-
turierung im Geiste der Sozialpartnerschaft. In: Ders.: Das war Österreich. Gesammelte Essays
zum Land ohne Eigenschaften. Hg. v. Eva Schörkhuber. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005, S. 138–
171.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
244 Wolfgang Kraus und die österreichische Literatur
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437