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Jandls Distanzierung von diesem Protest befand Schuh retrospektiv als para-
dox, denn Jandls Distanzierung „unterstrich ja bloß die Rechtmäßigkeit des Pro-
tests, den Jandl vor Kraus zurückzog. Unser ‚Alleingang‘ begegnete dem grün
fauligen Grinsen der etablierten Macht, Kraus war unschlagbar, und das war sie:
die Literaturpolitik der siebziger Jahre.“418
Ein Kraus’scher Boykott? Die Causa Herbert Kuhner
Eine der größten Kontroversen, die auch über Österreich hinaus Wellen schlug,
war mit Kraus’ „Kulturkontaktstelle“ im österreichischen Außenministerium
verbunden. Im englischen Periodikum „Index on Censorship“ erschien ein Arti-
kel des Schriftstellers Herbert Kuhner, der schwere Vorwürfe gegenüber Kraus
erhobt, weil dieser einen Stipendienantrag Kuhners abgelehnt hatte. Kuhner
fühlte sich darob boykottiert:
I have never enjoyed the favour of Dr. Kraus, and needless to say, have never read
in the Society, nor have I ever had a reading sponsored by any Austrian literary
organisation. […] Dr. Kraus, at any rate, has done his best to implement a cam-
paign of boycott and isolation. […] [Kraus] wields absolute literary power in Aus-
tria. […] I was invited to attend the Adelaide Festival in March 1976. The invita-
tion was channelled to the Kontaktstelle. Dr. Kraus wrote to the Adelaide
Committee that Austria would send a writer to Australia but that it definitely would
not be Herbert Kuhner. When Adelaide wrote a second time and reaffirmed their
wish to have me, Kraus replied that no one would be sent.419
Dieser Vorfall, der in Österreich kaum wahrgenommen wurde, wie „profil“
berichtete, wirbelte dagegen international Staub auf. Ein Redakteur von „Index“
flog eigens nach Wien, um Kuhner beizustehen, und Korrespondenten von
„Times“ und „Herald Tribune“ recherchierten die Affäre.420
Kuhner, geboren 1935 und Mitglied des US-amerikanischen sowie australi-
schen P.E.N.-Clubs, war mit seinen Eltern 1939 zur Emigration gezwungen wor-
den und lebte seit seiner Rückkehr aus dem US-Exil ab 1963 wieder in Wien. Zu
seinen Förderern zählte Reinhard Federmann, der Texte Kuhners in seiner Lite-
raturzeitschrift „Die Pestsäule“ publizierte. Für eine englischsprachige Anthologie
418 Franz Schuh: Beschreibung eines Wunsches. Die Grazer Autoren-Versammlung als Paradigma
eines Schriftstellervereins der siebziger Jahre. In: Aspetsberger, Lengauer (Hg.): Zeit ohne
Manifeste, S. 16–34, hier S. 29 f. [Kursivierung im Original.]
419 Herbert Kuhner: Persona non grata. In: Index on Censorship 5 (1976), H. 5, S. 61.
420 Vgl. N. N.: Arabesken des Lebens. In: profil. 25. Jänner 1977, S. 55.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Polemiken und Kämpfe im Feld 287
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437