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Ein weiterer Effekt dieses „Tauwetters“ war der kulturelle Austausch zwischen
Ost und West. Erste Signale waren z. B. eine Picasso-Ausstellung (1956) und die
Weltjugendfestspiele (1957) in Moskau, die erste „Begegnungen mit dem Wes-
ten nach langen Jahren der Isolation“44 ermöglichten und sich intensivierende
Informations- und Diskussionsmöglichkeiten unter Künstlerinnen und Künst-
lern sowie Schriftstellerinnen und Schriftstellern. Das am 27.
Jänner 1958 abge-
schlossene sogenannte Lacy-Zarubin Agreement machte den Austausch in den
Bereichen Wissenschaft und Technologie, Landwirtschaft, Medizin und Gesund-
heitswesen, Tourismus, Sport, aber auch in Bezug auf kulturelle Produkte wie
Radio, Fernsehen, Filme, Ausstellungen und Publikationen möglich.45
Nicht nur die Großmächte partizipierten an diesem Austausch, auch Öster-
reich, das sich mit dem Staatsvertrag 1955 zu einer „Brücke“ zwischen Ost und
West entwickeln sollte, und als „alpine Modelldemokratie“46 unter Bruno Kreis-
ky ab 1959 verstärkt eine „Nachbarschaftspolitik“ verfolgte. Der Signalwirkung
nach als außenpolitisch neutral „gesegnet“, kam Österreich durch seine geogra-
phisch exponierte Lage am „Eisernen Vorhang“ eine wichtige Rolle zu.
Der neue Handlungsspielraum für den neutralen Kleinstaat wurde von Kreis-
ky früh erkannt, der zwar entschiedener Antikommunist war, aber dennoch auf
eine „friedliche Erosion des kommunistischen Blocksystems“47 setzte. Unter
Bundeskanzler Josef Klaus, der dieses Amt von 1964 bis 1970 innehatte, kam es
zu einer Intensivierung der Ostkontakte. Auch Kraus, der eng mit Klaus befreun-
det war, sah die außenpolitische Funktion Österreichs auf kulturellem Gebiet als
diejenige einer „Brücke zwischen Ost und West“.48 Rathkolb hat bezüglich der
österreichischen „Ostpolitik“ – eigentlich ein Begriff aus der Auslandpolitik der
Bundesrepublik Deutschland unter Willy Brandt, der 1966 vorgestellt wurde –,
festgestellt, dass die Rolle Österreichs im Kalten Krieg zwischen einem ehrlichen
Vermittler und „Doppelagenten“ oszillierte.49
Auch die ÖGL war aus einer solchen Perspektive ein „Doppelagent“, dessen
politische Agenden hinter einer kulturellen Fassade verborgen waren. Denn in
ihrer Frühzeit war sie nicht nur für die Belebung des Wiener Literaturbetriebs
44 Klaus Städtke, Christine Engel (Hg.): Russische Literaturgeschichte. 2. akt. u. erw. Aufl. Stutt-
gart, Weimar: Verl. J. B. Metzler 2011, S. 350.
45 Vgl. Yale Richmond: Cultural Exchange and the Cold War. Raising the Iron Curtain. Univ. Park
Pa.: Pennsylvania State University Press 2003, S. 15.
46 Arnold Suppan: Österreichs Ostpolitik 1955–1989. In: Ibolya Murber (Hg.): Die ungarische
Revolution und Österreich 1956. Wien: Czernin 2006, S. 75–92.
47 Rathkolb: Die paradoxe Republik, S. 213.
48 Vgl. Wolfgang Kraus: Kultur im Aufbruch. Österreich aktiviert seine Kulturpolitik. In: Süd-
west-Presse, 12. Februar 1958.
49 Vgl. Oliver Rathkolb: Austrias „Ostpolitik“ in the 1950s and 1960s: Honest Broker or Double
Agent. In: Austrian History Yearbook 26 (1995), S. 129–145.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Der kulturelle Kalte Krieg in Europa 365
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437