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werden“.67 Aus dieser Besprechung entwickelte sich die Idee zu den „Round-Ta-
ble“-Gesprächen, die in der ÖGL abgehalten wurden.
Wie sich die Organisation dieser internationalen Kongresse gestaltete, lässt
sich aus der Korrespondenz, die Kraus mit Sperber führte, ablesen. Für das
„Round-Table“-Gespräch „Unser Jahrhundert und sein Roman“ im Oktober 1965
besprach Kraus in Paris mit François Bondy „alles bis ins kleinste Detail [...],
sowohl die Liste der Teilnehmer, als auch die Usancen bei der Tagung, wobei
festgelegt wurde, dass jeder der Herren ein Referat von 10 – 20 Minuten nach
schriftlicher Vorlage halten soll. Dass diese Tatsache in meiner Einladung nicht
erwähnt ist, hat lediglich psychologische Gründe, weil ich viele der sehr heiklen
Herren durch eine solche schriftliche Fixierung nicht abschrecken wollte“.68
Die Einladungsschreiben schöpften dann auch aus den politischen Vorzügen
der Vergangenheit und Gegenwart, transzendierten den „Eisernen Vorhang“
gleichsam: „Der Boden des neutralen Österreichs scheint uns besonders für eine
kulturelle Auseinandersetzung zwischen Ost und West geeignet zu sein und der
Tradition des einstigen Vielvölkerstaates zeitgemäß zu entsprechen.“69 Die Tra-
dition und der gemeinsame Kulturraum unter der habsburgischen Monarchie
wurden hier als Gegengewicht zu den strikt getrennten geopolitischen Sphären,
die der Kalte Krieg geschaffen hatte, ins Treffen geführt.
Kraus stellte für Sperber „eine Wunschliste an ‚Namen‘ für die Roman-Dis-
kussion“ zusammen und bat darum, ihn wissen zu lassen, „bei welchen Herren
der Wunschliste Sie Einfluss haben und bei wem Sie eine Einladung für aus-
sichtsreich und auch sinnvoll halten“.70 Der Kongress konnte schließlich mit
einer wahren Vielfalt an bedeutenden Persönlichkeiten aufwarten. Anwesend
waren u. a. der systemkritische slowakische Autor Ladislav Mňačko, der tsche-
chische Schriftsteller, Übersetzer und Psychiater Josef Nesvadba, der Schriftstel-
ler Hermann Kesten und der Literaturwissenschaftler Hans Mayer. Aus England
kamen die mit Kraus befreundeten Schriftsteller Elias Canetti und Erich Fried,
die beide in der ÖGL gelesen hatten. Die literarischen Stimmen Frankreichs
waren mit dem Vater des „Nouveau Roman“ Alain Robbe-Grillet und Manès
Sperber vertreten. Auch der polnische Germanist Roman Karst, der an der
Franz-Kafka-Konferenz auf Schloss Liblice bei Prag im Mai 1963 teilgenommen
hatte und versuchte, Kafkas Werke in den kommunistischen Ländern durchzu-
setzen, stand auf der Liste. Ungarn war mit den Schriftstellern Tibor Déry und
Géza Ottlik vertreten. Mit Déry, der wegen seiner Beteiligung am Ungarischen
Volksaufstand 1956 mehrere Jahre im Gefängnis gesessen hatte und dessen Wer-
67 Wolfgang Kraus an Manès Sperber, 9. August 1964, NL WK.
68 Kraus an Sperber, 14. Jänner 1965, NL WK.
69 Ders. an Sperber, 23. Dezember 1964, NL WK.
70 Ders. an Sperber, 12. Mai 1965, NL WK.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Die Round-Table-Gespräche der ÖGL 371
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437