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der ‚Transmissionsriemen‘ und der sogenannten führenden Rolle der KPČ in
Frage und erprobten die Möglichkeit des offenen Widerspruchs zum Regime.
Damit öffneten sie den Weg zum ‚Prager Frühling‘“151, der mit dem Einmarsch
der Truppen des Warschauer Paktes von 20. auf 21.
August 1968 gewaltsam nie-
dergeschlagen wurde.
Die ÖGL protestierte nicht nur offiziell in einer Aussendung,152 sondern
nahm damals auch 200 Intellektuelle, auf. Kraus erinnert sich, dass der Germa-
nist Eduard Goldstücker an der Tür der ÖGL „mit einem Köfferchen in der Hand
und nichts sonst“153 läutete.
Nach dem 21. August 1968 bis zur endgültigen Grenzschließung seitens der
ČSSR im Oktober 1969 war es zehntausenden tschechoslowakischen Staatsbür-
gerinnen und Staatsbürgern gelungen, das Land auf legalem Weg zu verlassen,
wobei für den Großteil Österreich ähnlich wie während des ungarischen Volks-
aufstands 1956 aufgrund seiner geografischen Lage „Erstaufnahme- und Asyl-
land sowie Drehscheibe für eine Weiterreise in andere westliche Staaten“154 war.
Obwohl die Reaktion der österreichischen Regierung auf den Einmarsch der
Truppen des „Warschauer Paktes“ in die Tschechoslowakei „unter Verweis auf
Neutralität und Unabhängigkeit“ Österreichs zurückhaltend ausgefallen war,
hatte Wien dennoch die „Hauptlast der Erstversorgung“155 zu tragen: „Fest steht,
dass in einer ersten großen Welle bis zum 23.
Oktober 1968 162.000 tschechos-
lowakische Staatsbürger nach Österreich gelangten, 96.000 davon aus der
Tschechoslowakei direkt, 66.000 aus Jugoslawien. Bis Anfang Dezember 1968
erhöhte sich diese Zahl auf rund 208.000 Personen. Im Sommer 1969 fand eine
zweite Flüchtlingswelle mit mehreren tausend Personen ihren Höhepunkt.“156
Für Österreich war damit großer finanzieller und organisatorischer Aufwand
verbunden, weshalb viele nationale und internationale Hilfsorganisationen sowie
die internationale Staatengemeinschaft zu Hilfe kamen.
Auch die ÖGL fand mit den staatlichen Mitteln, die ihr zur Versorgung der
Flüchtlinge zur Verfügung gestellt wurden, kein Auskommen. Deshalb fragte
Kraus bei Stone nach, ob nicht die IASCF der ÖGL finanziell auf die Sprünge
helfen könne:
151 Ebd., S. 120.
152 Vgl. Brief von Milo Dor an Wolfgang Kraus, 30. August 1968, ÖGL-Archiv.
153 Wolfgang Kraus: Zwischen Trümmern und Wohlstand. Das literarische Leben in Österreich
von 1945 bis zur Gegenwart – ein Essay. In: Herbert Zeman (Hg.): Geschichte der Literatur in
Österreich. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. 7: Das 20. Jahrhundert. Graz: Akade-
mische Druck- und Verlagsanstalt 1999, S. 539–636, S. 601.
154 Silke Stern: Die tschechoslowakische Emigration: Österreich als Erstaufnahme- und Asylland.
In: Karner [u. a.] (Hg.): Prager Frühling, S. 1024–1042, hier S. 1026.
155 Ebd., S. 1033.
156 Ebd., S. 1041.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Die intellektuellen Dissidenten aus dem Osten 389
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437