Page - 300 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Image of the Page - 300 -
Text of the Page - 300 -
Teil II: Romantext als
KrÀftefeld300
hat88, schlieĂt er ironisch : âKakanien war ein ungeheuer kluger Staat.â (MoE
361) âKlugâ â so lĂ€sst sich hinzufĂŒgen â wohl auch deshalb, weil jede prinzipi-
engeleitete Form von âfunktionierenderâ sozialer âWirklichkeitâ eine bloĂ singu-
lĂ€re Realisierung â und damit Aufhebung â des âMöglichkeitssinnsâ bedeutete.
Dieser Befund gilt nicht nur fĂŒr Kakanien als Ganzes, sondern Pars pro Toto
insbesondere fĂŒr dessen Hauptstadt, die ebenso wie der von ihr aus verwal-
tete Staat den Eindruck von âUnwirklichkeitâ erweckt ; Musil hĂ€lt dies bereits
1921/22 in seinem Gesamtkonzept zum Erlöser-Projekt fest und verweist dabei
wiederum auf die gegenseitige Entsprechung von erzÀhltem Raum und mÀnn-
licher Hauptfigur Anders (bzw. Ulrich) : âEr ist in Wien, weil Wien unwirklich
ist. Irgendwie das GefĂŒhl, hier am Platz zu sein.â (M VII/10/48) Die âEigen-
schaftslosigkeitâ der âunwirklichenâ kakanischen Metropole kommt freilich erst
im sozialen und kulturellen âZerfallâ nach dem verlorenen Weltkrieg voll zur
Geltung, wie Musil in unmittelbarer Umgebung seiner Bemerkung zum âgro-
tesken Ăsterreichâ bemerkt : âDiese Stadt Wien, die nur zum Schein eine im-
periale Stadt prestiert[89] hat, damals schon, jetzt hat sie sich gefunden.â (Tb 1,
354) Angesichts einer solchen Diagnose erscheint die bereits angesprochene
âdoppelte Zeitstrukturâ90 des Romans historisch legitimiert. Musils erzĂ€hleri-
sche Ausgestaltung des romanesken Handlungsraums nimmt den von Karl
Kraus 1914 begrĂŒndeten literarischen Topos, die âösterreichische[ ] Versuchs-
station des Weltuntergangsâ mit der âFratze des gemĂŒtlichen Siechtumsâ91 zu
zeichnen, nicht nur auf, sondern radikalisiert ihn gerade dadurch, dass sie den
essayistischen Diskurs jeder Form von bitterem moralistischem Unterton ent-
kleidet92 und Letzteren durch eine universelle Ironie ersetzt.
1.3 Das Feld der Macht im Mann ohne Eigenschaften
Um die bisherige Analyse des Chronotopos von Musils Roman sozioanaly-
tisch zu differenzieren, bedarf es einer âklaren Trennung von physischem und
88 Taaffe war 1869/70 und von 1879 bis 1893 konservativer MinisterprÀsident und Innenminister
von Cisleithanien. Fuchs : Geistige Strömungen in Ăsterreich, S. 15, spricht ausdrĂŒcklich von
Taaffes âSystem des âFortwurstelnsââ.
89 Gemeint ist wohl âprĂ€stiertâ im Sinn von âdargestelltâ (vgl. Tb 2, 216, Anm. 16).
90 Vgl. Blasberg : Krise und Utopie der Intellektuellen, S. 8.
91 Kraus : Franz Ferdinand und die Talente, S. 2.
92 Bei Kraus war noch recht eindeutig von den âden TriebkrĂ€ften österreichischer Verwesung, dem
GemĂŒtlichen und dem JĂŒdischenâ, die Rede (ebd., S. 3). Solche problematischen Affirmationen
wird man bei Musil vergeblich suchen.
back to the
book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208