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34 Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus
Mähren ein wesentlich besserer war als etwa jener der Juden in der Reichshaupt- und
Residenzstadt Wien. Dies verdeutlicht eine Debatte innerhalb der Hofkanzlei, die
sich anlässlich eines Toleranzgesuchs des Kupferstechers Jacob Wertheimer im Jahr
1807 entzündete. In dieser wurde ein Vorschlag der Polizeidirektion Niederöster-
reichs, die Zahl der Juden in Wien in ähnlicher Weise zu begrenzen wie in Böhmen
und Mähren, mit dem Argument zurückgewiesen, dass die Gewährung der Tole-
ranz in Wien »eine bloße Gnade sei, welche nach Umständen willkürlich widerru-
fen werden könne«, der Aufenthalt der Tolerierten deshalb »immer nur zeitlich und
precär« sei und sie daher »in dieser Hauptstadt nicht einmal als wahre Untertanen
anzusehen sind«.100 Während also eine Familienstelle auch das politische Domizil,
das Heimatrecht, in der betreffenden Gemeinde, d. h. eine soziale Grundsicherung
(die Armenversorgung aus der Contributionscassa der betreffenden Judengemeinde)
sowie einen Schutz vor Abschiebung bedeutete, schützte der Erhalt der Toleranz in
Wien niemanden davor, etwa im Verarmungsfall ausgewiesen zu werden. Endgültig
aufgehoben wurde das Familiantenwesen in Böhmen und Mähren erst ein Jahr nach
der bürgerlichen Revolution von 1848.101
Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens
Ganz anders gestaltete sich die Situation für die über 200 000 Juden Galiziens102,
die nach der ersten Teilung Polens im Jahr 1772 zu habsburgischen Untertanen
geworden waren. Die für viele Aufklärer »verstörende Erscheinung« der Masse ar-
mer galizischer Juden103 führte mit dem am 7. Mai 1789 kundgemachten Patent zu
einem radikalen Entwurf, der in vielen Punkten über die Patente für die niederös-
terreichischen, böhmischen und mährischen Juden hinauswies.104 Juden konnten
100 AVA Inneres, Hofkanzlei IV T 1, 32 aus Juli 1807.
101 Vgl. Eveline Brugger/Martha Keil/Albert Lichtblau (Hg.) : Geschichte der Juden in Österreich
(Wien 2007), S. 456.
102 Zu den Gründen für die stark voneinander abweichenden Zahlen der Volkszählungen zwischen
1773 und 1780 im Hinblick auf die Juden siehe : Svjatoslav Pacholkiv : Social Implications of
the Incorporation of Galicia into the Habsburg Realm, in : Harald Heppner, Peter Urbanitsch,
Renate Zedinger (Hg.) : Social Change in the Habsburg Monarchy (Bochum 2011), S. 61–81,
hier : S. 62.
103 Siehe dazu : Larry Wolff : Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the
Enlightenment (Stanford, Calif. 1994), S. 29.
104 »Patent. Kraft welchen den Juden alle Begünstigungen und Rechte der übrigen Untertanen gewäh-
ret sind«, Patent vom 7. Mai 1789. AVA Inneres, Hofkanzlei IV T 1. Klaus Lohrmann macht
anhand des galizischen Patents deutlich, dass die Toleranzpolitik einer dynamischen Entwicklung
unterlag. Lohrmann, Finanz und Toleranz, S.
65. Zur Geschichte der Juden in Galizien vgl. Heiko
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271