Seite - 115 - in Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden - Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Bild der Seite - 115 -
Text der Seite - 115 -
Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
genannt wird, einen hohen Anteil hatten. Auch die gebildete jüdische Elite Wiens
verdankte ihre Entstehung nicht zuletzt dem Zuzug jüdischer (mehrsprachiger) Stu-
denten aus Galizien.399 Steven Beller erklärt den hohen Anteil jüdischer Mittelschüler
und Studenten mit der – verglichen mit dem Katholizismus – deutlich anderen Bil-
dungstradition des Judentums. So lernten Knaben schon im Alter von drei oder vier
Jahren lesen. Sie besuchten den Cheder oder die Talmud-Thora-Schulen, in denen
Hebräisch gelehrt wurde400, in zunehmendem Maße aber auch (und zwar zuerst die
Mädchen) die öffentlichen Volksschulen mit polnischer Unterrichtssprache, später
bevorzugt Mittelschulen mit deutscher oder polnischer Unterrichtssprache und wa-
ren ihren Mitschülern oft schon aufgrund ihrer Mehrsprachigkeit überlegen.401
Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina
Auch in der Bukowina, dem ethnisch und sprachlich vielfältigsten Kronland mit
dem höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil, sprengte die Mehrsprachigkeit jüdi-
scher Kinder oft genug die amtliche Statistik. Wie heute wieder in vielen europäi-
schen Großstädten sah sich die Lehrerschaft in Czernowitz/Černivci/Cernăuţi mit
einer äußerst heterogenen, pluriethnischen und polyglossen Schülerpopulation kon-
frontiert. So gab es Kinder römisch-katholischer, griechisch-orthodoxer, griechisch-
katholischer (unierter), evangelischer und (mit 30,6 Prozent die stärkste Gruppe)
jüdischer (mosaischer) Konfession. Mehr als die Hälfte der jüdischen Kinder, exakt
51,3 Prozent, sprach im Volksschulalter neben ihrer eigentlichen Muttersprache Jid-
disch mindestens zwei, manche drei Landessprachen (Deutsch, Rumänisch, Ruthe-
nisch) und 36 Kinder sogar alle vier landesüblichen Sprachen (mit Polnisch), wobei
die Kenntnis des Hebräischen, das ein großer Teil der jüdischen Knaben im Cheder
lernte, in den amtlichen Statistiken gar keine Berücksichtigung fand.402
Das bukowinische Landesschulgesetz trug der komplexen Bildungslandschaft in
der Bukowina insofern Rechnung, als die Unterrichtssprache durch eine eigens ein-
gesetzte Kommission, die die ethnisch-sprachlichen Verhältnisse vor Ort festzustel-
len hatte, bestimmt wurde. So existierten neben einsprachigen Volksschulen in allen
399 Jerzy Holzer : Aufklärung, Assimilation und moderne Identitäten. Jüdische Eliten in Galizien, Vor-
tragsmanuskript, Juni 1992, S. 8f. sowie vom gleichen Autor : Zur Frage der Akkulturation der
Juden in Galizien im 19. und 20. Jahrhundert, in : Jahrbücher für die Geschichte Osteuropas 37
(1989), S. 217–227.
400 Beller, Juden in Wien, S. 103.
401 Vgl. Burger, Sprachenrecht, S. 71.
402 Schematismus der Allgemeinen Volksschulen und Bürgerschulen in den im Reichsrathe vertretenen
Königreichen und Ländern (Wien 1902), S. 749.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271