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Staatenlosigkeit als Massenschicksal
Staatenlosigkeit war im 20. Jahrhundert ein Massenschicksal – Folge von Flucht,
Vertreibung, Exil.654 Waren es Anfang des Jahrhunderts vor allem Armenier und rus-
sische Revolutionsflüchtlinge, die
– als vom Völkerbund anerkannte und als Inhaber
von Nansen-Pässen
– so etwas wie die »Aristokratie unter den Staatenlosen« gebildet
hatten, so waren es nach dem Ersten Weltkrieg vor allem jene, die durch den Unter-
gang der österreichisch-ungarischen Monarchie wie auch des Osmanischen Reiches
ihre Staatsbürgerschaft verloren hatten, darunter sehr viele Juden.
Der Prozess der Nationalstaatsbildung nach dem Zerfall der multinationalen
Reiche schuf zusammen mit den Pariser Vorortverträgen von 1919/20 ein Millio-
nenheer von Heimatlosen, deren Nationalität bis zur Annahme einer neuen Staats-
bürgerschaft (durch Option) völkerrechtlich als indéterminée galt. In den Dreißiger-
jahren vermehrten zuerst die Flüchtlinge des spanischen Bürgerkriegs die Zahl der
Staatenlosen, und in der nationalsozialistischen Epoche waren es wieder vor allem
Juden, die ihrer Staatsbürgerschaft in einem überaus komplexen, in mehreren Schü-
ben vonstatten gehenden Prozess beraubt werden. Bereits 1939 waren annähernd 50
Prozent aller im Reichsgebiet lebenden Juden ohne Staatsbürgerschaft.655 Bei ihrer
Ermordung waren fast alle (ehemals deutschen und österreichischen) Juden staa-
tenlos. Erstmals im Jahr 1954 gab es eine UN-Konvention zum Status staatenloser
Personen ; 1961 folgte eine zweite Konvention zur Verminderung von Staatenlosig-
keit.656 Als man 2011 das fünfzigjährige Bestehen dieser Übereinkunft feierlich be-
ging, belief sich, dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen zufolge,
die Zahl der Staatenlosen allein in Europa noch immer auf etwa 590 000 Personen
–
weltweit sind es geschätzte 12 Millionen Menschen.657
Die beiden nachstehenden Fallgeschichten stehen exemplarisch für die vielschich-
tigen Dimensionen und Probleme der Staatenlosigkeit. Die Betroffenen waren nie
(Elias Canetti) bzw. nur wenige Jahre (Manès Sperber) österreichische Staatsbürger.
In beiden Fällen resultierte ihre jahrzehntelange Staatenlosigkeit aus dem Untergang
654 Siehe dazu die grundlegende Studie : Gerald Daniel Cohen : In War’s Wake : Europe’s Displaced
Persons in the Postwar Order (Oxford 2011).
655 Martin Tarrab-Maslaton : Rechtliche Strukturen der Diskriminierung der Juden im Dritten Reich
(Berlin 1993), S. 55.
656 Abgedruckt in : Goldemund/Ringhofer/Theurer, Staatsbürgerschaftsrecht, S. 242f.
657 http ://europa-redaktion.blogspot.com/2011/08.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271