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Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz 53
die Toleranz bzw. eine Familienstelle zu erwerben. Waren Juden im Besitz der Tole-
ranz, so geschah, wie ein Praktiker des Staatsbürgerschaftsrechtes, Johann Vesque
von Püttlingen, betont, »ihre Aufnahme in die Staatsbürgerschaft wie bei anderen
Ausländern« auch.164
Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
und das Auftauchen der »Judenfrage«
Die Entwicklung der staatsbürgerlichen Rechte der Juden in den einzelnen Län-
dern der österreichischen Monarchie verlief bis zum Vormärz derart unterschiedlich,
dass ein gründlicher Kenner der Materie, Salo Baron, urteilen konnte : Im Einzel-
nen habe im Kaiserstaat »eine derart große Vielgestaltigkeit der Gesetzgebung« ge-
herrscht, »wie sie nicht einmal unter den Staaten des übrigen Deutschlands« bestan-
den habe.165 Dort war es insbesondere nach der Niederlage Napoleons in allen zuvor
von Frankreich annektierten Ländern – in denen Juden vollkommen gleichgestellt
gewesen waren – zu erheblichen Rückschritten hinsichtlich der Judengesetzgebung
gekommen. Selbst wenn Juden mancherorts bereits den Kern der neuen bürger-
lichen Gesellschaft ausmachten, konnte das nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihre
staatsbürgerliche Stellung in den meisten deutschen Staaten noch immer äußerst
prekär war. Als dann Preußen im März 1812 seine Juden zu Inländern und Staats-
bürgern machte und ihnen nahezu alle bürgerlichen Rechte gewährte,166 regten sich
in allen Staaten – so auch in Österreich – Hoffnungen auf eine vollständige staats-
bürgerliche Gleichstellung der Juden im Zuge einer allgemeinen europäischen Lö-
sung im Rahmen des Wiener Kongresses.167
164 Johann Vesque von Püttlingen : Die gesetzliche Behandlung der Ausländer in Österreich (Wien
1842), S. 29. Siehe auch : Barth-Barthenheim, Politische Administration 1, S. 63f.
165 Salo Baron : Die Judenfrage auf dem Wien Kongreß (Wien/Berlin 1920), S. 20. Ähnlich argumen-
tierend wie Baron in Bezug auf die preußischen Länder : Ludwig von Rönne/Heinrich Simon : Die
früheren und gegenwärtigen Verhältnisse der Juden in den sämmtlichen Landestheilen des Preußi-
schen Staates (Breslau 1943).
166 Bis zum Ende des Vormärzes kam es allerdings auch in Preußen wieder zu erheblichen Rückschrit-
ten in der Judengesetzgebung. Vgl. Dieter Gosewinkel : Einbürgern und Ausschließen. Die Nati-
onalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland
(= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Bd. 150) (Göttingen 2003), S. 76.
167 Das Auftreten der Juden auf dem Wiener Kongress war allerdings ein uneinheitliches und, wie
Stephan Wendehorst betont, teilweise vormodernes. So berief sich etwa die Israelitische Gemeinde
zu Frankfurt am Main in einer Bittschrift vom 10. Oktober 1814 – gegen die Bedrückungen des
Frankfurter Magistrats
– auf den »unmittelbaren Schutz Seiner Kaiserlichen Majestät«, beschworen
Huldigungsformeln, das alte Reichsrecht sowie ihre von der christlichen Gemeinde zu Frankfurt
»ganz abgesonderte Existenz« (abgedruckt in : Johann Ludwig Klüber (Hg.) : Acten des Wiener
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271