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116 Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit
Landes- und landesüblichen Sprachen auch Schulen, die gemischtsprachig, d. h. mit
bis zu vier verschiedenen Unterrichtssprachen (deutsch-ruthenisch-rumänisch-pol-
nisch), eingerichtet waren.403 Während an den einsprachigen Volksschulen eine der
Landessprachen einen »relativ obligaten« Lehrgegenstand bildete, wurden an den
gemischtsprachigen Volksschulen die Kinder entsprechend ihrer Muttersprache in
getrennten Abteilungen unterrichtet.404 Auch das Modell des gemischtsprachigen
Gymnasiums, das von dem slowenischen Pädagogen Joseph Šuman entwickelt wor-
den war, war in der Bukowina häufiger anzutreffen. So wurde im Jahr 1895, um das
überfüllte Staatsgymnasium von Czernowitz zu entlasten (ein Gymnasium mit bis
zu 80 Prozent jüdischen Schülern), zunächst Parallelklassen mit ruthenischer, später
auch mit rumänischer Unterrichtssprache eingerichtet, die nach der Jahrhundert-
wende in selbständige Gymnasien umgewandelt wurden. Für diese gemischtsprachi-
gen Gymnasien, an denen ein Teil der Fächer in der Muttersprache der Schüler, die
anderen Fächer in deutscher Sprache unterrichtet wurden, existierten sowohl eigene
Lehrpläne, als auch eigene Schulbücher.405
Die Entwicklung der Bildungslandschaft in der Bukowina während der Verfas-
sungszeit ist bemerkenswert, gehörte doch das ökonomisch noch immer rückstän-
dige Kronland mit einer Einwohnerschaft von nur knapp 800 000 Menschen vor
dem Ersten Weltkrieg zu den Ländern mit dem höchsten Anteil von Mittelschülern.
Jüdische Schüler – und ganz zuletzt auch Schülerinnen – spielten dabei eine her-
ausragende Rolle. Ihr Anteil erreichte im Schuljahr 1893/94 mit 43,3 Prozent den
höchsten Stand. Knapp vor dem Ersten Weltkrieg (die absolute Schülerzahl hatte
sich in dieser Zeit fast verdoppelt) war er (mit 39,6 Prozent) leicht gesunken. Neben
den oben angeführten Gründen dürfte in der Bukowina auch die starke Auswande-
rungsbewegung, an der Juden ebenfalls einen hohen Anteil hatten, eine Rolle ge-
spielt haben.406
Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit
Zu Versuchen einer grundlegenden Umgestaltung dieses bemerkenswert mehrspra-
chigen Unterrichtswesens kam es, als – mit einiger Verspätung und in einer ver-
gleichsweise milden Variante
– der nationale Zeitgeist auch in der Bukowina einzog.
403 Vgl. Hannelore Burger : Mehrsprachigkeit und Unterrichtswesen in der Bukowina 1869–1918, in :
Ilona Slawinski/Joseph P. Strelka (Hg.) : Die Bukowina. Vergangenheit und Gegenwart (Bern et al.
1995), S. 93–125, hier : S. 101f.
404 Burger, Bukowina, S. 101f.
405 Burger, Bukowina, S. 108.
406 Ebenda, Tabelle 2B, S. 122.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271