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Juden im Ersten Weltkrieg
Das Staatsgrundgesetz von 1867 hatte, zusammen mit dem ein Jahr später verab-
schiedeten Wehrgesetz, nicht zuletzt auch die Einbeziehung der Juden in die allge-
meine Wehrpflicht – eine staatsbürgerliche Pflicht par excellence – gebracht. Ob-
wohl es, vor allem bei orthodoxen galizischen Juden, immer noch eine gewisse An-
zahl gab, die versuchte, sich der Stellungspflicht zu entziehen, entsprach im letzten
Jahrzehnt der Monarchie der Anteil der Juden in der k. u. k. Armee fast schon ihrem
Bevölkerungsanteil. 1902 dienten 59 784 jüdische Soldaten im Heer – 3,9 Prozent
(bei einem jüdischen Bevölkerungsanteil von 4,6 Prozent).460 Da Juden seit 1867
auch die Kadettenschulen und Militärakademien besuchen durften, stieg der Anteil
jüdischer Berufsoffiziere stetig an und sogar in der Generalität fanden sich vereinzelt
Juden, darunter auch ein Marine-Konteradmiral und ein Generaloberstabsarzt.461
Besonders hoch war der jüdische Anteil an den Reserveoffizieren, wohl auch, weil
das Tragen der Uniform als Symbol einer endgültigen Aufnahme in die christliche
Mehrheitsgesellschaft galt. Mit Ausnahmen erwies sich das Offizierskorps, wie Erwin
Schmidl gezeigt hat, gegenüber dem im zivilen Leben stetig anwachsenden Anti-
semitismus immun.462 Die multiethnische k. u. k. Armee mit ihren dreizehn Nati-
onalitäten und zwölf Religionen war neben der Bürokratie zweifellos ein stabilisie-
rendes Element im von endlosen Nationalitätenkämpfen zermürbten und in seinen
Grundfesten erschütterten Reich.
Als im Herbst 1914 der Erste Weltkrieg begann, war die Haltung der jüdischen
Bevölkerung ambivalent. Zwar war der Anteil jüdischer Wehrpflichtiger, die um Be-
freiung vom Wehrdienst ansuchte oder der sich der Stellung zu entziehen suchte, wie
der oben zitierte Fall des Aron Moses Taubes zeigt, unter orthodoxen galizischen Ju-
den größer als bei anderen Religionsgemeinschaften, doch unter den eher säkularen
Juden der übrigen Kronländer, vor allem bei den schon genannten Reserveoffizieren,
war die (anfängliche) Kriegsbegeisterung genauso groß wie unter der übrigen Bevöl-
kerung. Zu dieser Kriegsbegeisterung trug bei einigen noch eine Art »Kreuzzugsge-
danke« bei, nämlich die Befreiung der russischen Juden, deren Schicksal im Zaren-
460 Vgl. Schmidl, Juden in der k.(u.)k. Armee, S. 57.
461 Bis 1911 wurden 19 jüdische Offiziere in den Rang eines Generals erhoben, darunter elf Militär-
ärzte. Vgl. István Deák : Der K.(u.) k. Offizier 1848–1918 (Wien/Köln/Weimar 1991), S. 213.
462 Ebenda, S. 69 u. 74.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271