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Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
in besonderem Maße von den interkonfessionellen Volks- und Bürgerschulen mit
staatlicher Schulaufsicht, wie sie nach dem Reichsvolksschulgesetz von 1869 über-
all zu errichten waren. Aufbau und Gestaltung des Bildungssystems erfolgte unter
liberalem Vorzeichen unter dem Postulat der Gleichberechtigung. (Der Begriff der
Gleichberechtigung löste jetzt den Begriff der Emanzipation, der in das semanti-
sche Feld der Julirevolution von 1830 gehört, ab : Gleichberechtigung der Sprachen,
Gleichberechtigung der Nationalitäten, Gleichberechtigung der Konfessionen sind
die großen Themen der Tagespolitik, noch kaum – und schon gar nicht im Unter-
richtswesen
– Gleichberechtigung der Geschlechter.)
Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen
Das Grundrecht auf Wahrung und Pflege von Nationalität und Sprache – im »Völ-
kerfrühling« des Vormärzes geboren – war mit Artikel 19 des Staatsgrundgesetzes
vom Dezember 1867 in den Verfassungsrang erhoben worden. Intendiert war damit
der Schutz des Individuums, ein allgemeines Recht des Staatsbürgers, keinesfalls der
Schutz eines Volksstammes oder gar einer Sprache.359 In liberaler Tradition war hier
versucht worden, das nationale Bekenntnis dem religiösen gleichzustellen und damit
der Nationalität eine ähnliche Stellung wie der Konfession einzuräumen.360
Auf die Gestaltung des österreichischen (cisleithanischen) Unterrichtswesens
sollte Artikel 19 den größten Einfluss haben. War mit dem ersten Absatz :
Alle Volksstämme des Staates sind gleichberechtigt, und jeder Volksstamm hat ein
unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache.
an die liberalen Postulate von Kremsier und die ›Märzverfassung‹ von 1949 ange-
knüpft worden361, so wurde mit dem Absatz zwei :
359 Dass es im Zuge der Radikalisierung der Nationalitätenkämpfe und des Ethnisierungsprozesses
späterer Jahrzehnte zu einer Veränderung des Verständnisses von citizenship kam, darauf hat in
jüngster Zeit Gary B. Cohen aufmerksam gemacht. Gary B. Cohen : Citizenship and Nationality
in Late Imperial Austria, in : Marija Wakounig/Wolfgang Müller (Hg.) : Nation, Nationalität und
Nationalismus im östlichen Europa. Festschrift für Arnold Suppan (Köln/Wien 2010), S.
201–224,
204.
360 Zur Genesis von Artikel 19 siehe : Gerald Stourzh : Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in
der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848–1918 (Wien 1985), S. 53ff, sowie auch : Hanne-
lore Burger : Sprachenrecht und Sprachgerechtigkeit im österreichischen Unterrichts wesen 1867–
1918 (= Studien zur Geschichte der Österreichisch-Ungarischen Monarchie 26) (Wien 1995),
S. 37.
361 Vgl. Gerald Stourzh : Die österreichische Dezemberverfassung von 1867, in : Wege zur Grund-
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271