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Heimatrecht und soziale Frage 91
der Kinder das Motiv für das späte Einbürgerungsbegehren gewesen zu sein. Nur
ein einziger Fall wurde gefunden, in dem eine verheiratete Frau selbstständig die
österreichische Staatsbürgerschaft erhielt (bzw. wieder erwarb) : die von ihrem un-
garischen Ehemann, dem Schauspieler Emanuel Kanitz, getrennt lebende Sängerin
Caroline Bettelheim.320
Heimatrecht und soziale Frage
Wiewohl für die Aufnahme in den Staatsverband keineswegs Bedingung (gefordert
war lediglich die »polizeiliche Unbeanstandetheit«), finden sich in den protokollier-
ten Einvernahmen genaue Angaben über das Vermögen des Staatsbürgerschaftswer-
bers (Haus- und Grundbesitz, Aktien, Renten, Warenwert oder Betriebskapitel) ;
auch der Steuersatz und das Jahreseinkommen sind häufig ausgewiesen. Mit Aus-
nahme von jungen Akademikern, die, sofern polizeilich »unbeanstandet«, auch bei
geringem Einkommen eingebürgert wurden321, scheint Armut das größte Hindernis
für eine Aufnahme in die Staatsbürgerschaft, mehr allerdings noch in den Heimat-
verband der Gemeinde Wien, gewesen zu sein. So wurde etwa die Bewerbung des
aus Jamnitz/Jemnice (Mähren) stammenden Zuckerbäckers Salomon Kohn um das
Heimatrecht in Wien nicht nur wegen seines relativ kurzen Aufenthalts, sondern vor
allem wohl wegen dessen »Vermögenslosigkeit« und wegen seiner »sieben Kinder«
zurückgewiesen.322
Eine Verschärfung erfuhr das Heimatrecht, als im Zuge einer Gesetzesnovellie-
rung im Jahr 1896 statt des vierjährigen, wie es das provisorische Gemeindegesetz
von 1849 vorsah, wieder der zehnjährige Aufenthalt eingeführt wurde. Grundsätz-
lich sollte zwar jenen Staatsbürgern, welche sich über einen so langen Aufenthalt
»freiwillig und ununterbrochen in der Gemeinde aufgehalten« hatten, das Heimat-
recht »nicht versagt werden«323, doch in der Praxis hatten Arme kaum eine Chance
auf Aufnahme. Zunehmend wurde der Streit um das Heimatrecht Teil der sozialen
Frage. So prangerte etwa der jüdische Anwalt Julius Ofner die Praxis wohlhabender
Gemeinden an, Personen, welche über dreißig, vierzig Jahre, in manchen Fällen »ihr
ganzes Leben in Österreich wohnen«, makellos gelebt hatten, jedoch arm waren, die
Erteilung des Heimatrechts zu verweigern. Zwar sei es niemals in der Intention des
320 Caroline Bettelheim leistete am 15. März 1888 den Staatsbürgerschaftseid (ohne Einbeziehung
ihres Sohnes Gustav). WStLA, Hauptreg. P 1, Nr. 345223/86.
321 Etwa der Advokatur-Candidat Dr. Adolf Sonnenfeld. WStLA, Hauptreg. P 1, Nr. 113596/85.
322 WStLA, Hauptreg. P, Nr. 168765/1878.
323 § 2 der Heimatrechtsnovelle vom 5. Dezember 1896, RGBl. Nr. 1896222, zit. nach : Goldemund/
Ringhofer/Theuer, Staatsbürgerschaftsrecht, S. 540.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271