Seite - 100 - in Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden - Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Bild der Seite - 100 -
Text der Seite - 100 -
Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die
(sprach-)nationale Identität der Juden
Kafkas Sprachen
In der Erzählung »Das Stadtwappen« berichtet Franz Kafka über das mythische Pro-
jekt eines babylonischen Turmbaus, dass anfangs noch alles in leidlicher Ordnung
gewesen sei, aber bald schon sei es zu Problemen gekommen : »Jede Landsmann-
schaft wollte das schönste Quartier haben, dadurch ergaben sich Streitigkeiten, die
sich bis zu blutigen Kämpfen steigerten. Diese Kämpfe hörten nicht mehr auf.«340
Analysiert man, wie Marek Nekula das tut, die komplexen heraldischen Bezüge und
setzt an Stelle des altertümlichen Wortes Landsmannschaft den Begriff der Nationa-
lität ein, so wird hinter der düsteren Parabel Kafkas Heimatstadt Prag sichtbar.341
Doch wie bei jeder Geschichte Kafkas ist mehr als eine Lesart und ein Deutungs-
muster möglich342, und so ließe sich darin auch das gesamte Staatsgebäude der öster-
reichischen Monarchie erkennen, das in Kafkas Jugend von erbitterten Sprachen-
und Nationalitätenkämpfen erschüttert wurde und das von Zeitgenossen nicht sel-
ten mit dem Etikett Babylon bedacht wurde.
In seiner Schulzeit (von September 1889 bis Sommer 1893 besuchte Kafka die
Volks- und Bürgerschule für Knaben in der Fleischmarktgasse343, vom September
1893 bis zur Matura im Juli 1901 das k. k. Staatsgymnasium am Altstädter Ring)
340 Franz Kafka, Das Stadtwappen, in : Roger Hermes (Hg.) : Franz Kafka, Erzählungen und andere
ausgewählte Prosa (Frankfurt/Main 1996), S. 374–375.
341 Vgl. Marek Nekula : Franz Kafkas Sprachen und Identitäten, in : Marek Nekula/Walter Koschmal,
Juden zwischen Deutschen und Tschechen. Sprachliche, literarische und kulturelle Identitäten.
München 2006, S.
125–150. Das nachstehende Kapitel geht auf einen Vortrag zurück, der von mir
beim Symposium »Sprache und nationale Identität in öffentlichen Institutionen der Kafka-Zeit«
2005 in Regensburg gehalten wurde und in einer kürzeren Version in dem vorgenannten Tagungs-
band unter dem Titel "Das mehrsprachige Unterrichtswesen der Verfassungszeit (1867–1918) und
die sprachnationale Identität der Juden S. 151–163 abgedruckt wurde.
342 Vgl. Peter Demetz : Prag und Babylon. Zu Kafkas »Das Stadtwappen«, in : Böhmische Sonne, mäh-
ri scher Mond. Essays und Erinnerungen (Wien 1996), S. 81–92.
343 Mehr als die Hälfte der Kinder dieser Schule ist »israelitischer« Konfession. Fast alle Kinder waren
zweisprachig (dt. und böhmisch). Vgl. Schematismus der Allgemeinen Volkschule und Bürgerschu-
len in den im Reichsrathe vertretenen Königreichen und Ländern, K. k. Statistische Zentralkom-
mission (Hg.) (Wien 1902), S. 248.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271