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80 Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs
Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien
Ganz allgemein ist nach 1867 ein sprunghaftes Anwachsen der jüdischen Bevölke-
rung zu bemerken. War die Bevölkerung Österreichs (Cisleithaniens, oder, korrekt :
»der im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder«) im Jahr 1880 seit der letz-
ten Zählung um 7,9 Prozent, so war die jüdische Bevölkerung gleich um 22,9 Pro-
zent gewachsen.269 Für Wien waren die Zahlen noch bemerkenswerter. Hier betrug
der Anstieg der jüdischen Bevölkerung gegenüber der vorherigen Zählung gleich
81,1 Prozent (42 708 Personen), gegenüber einem Wachstum der Gesamtbevölke-
rung von nur 17,1 Prozent.270 Insgesamt erreichte der jüdische Bevölkerungsanteil
in Wien jetzt 10,6 Prozent.271
Zwar wird bis heute immer wieder die Ungenauigkeit bzw. Unvergleichbarkeit
der Ergebnisse der verschiedenen Zählungen hervorgehoben, die zum einen daraus
resultiere, dass die Volkszählungen vor 1880 vorwiegend zum Zwecke der militäri-
schen Konskription durchgeführt wurden – der sich orthodoxe Juden in Galizien
aus religiösen Gründen oft zu entziehen suchten
–, zum anderen einmal die tatsäch-
lich anwesende Bevölkerung, dann wieder nur die einheimische (heimatberechtigte)
Bevölkerung erhoben wurde, doch trotz dieser Inkonsistenzen bleibt, wie der Sta-
tistiker Gustav Schimmer feststellt, »die ganz abnorme Zunahme der Juden noch
immer auffallend«.272
Das bis zur Jahrhundertwende starke Wachstum der jüdischen Bevölkerung,
aber auch die in anderen Bereichen für Juden ermittelten Zahlen (geringere Säug-
lingssterblichkeit, geringere Tuberkuloseerkrankungen), kurz das »außerhalb jeden
Verhältnisses« Stehende der jüdischen Daten273, führte nicht nur zu Spekulationen
bezüglich relevanter sozialer und wirtschaftlicher Faktoren, sondern auch bezüglich
anderer Hygiene- und Gesundheitsstandards, abweichender Familienstrukturen, re-
ligiöser Traditionen etc., sodass es nach der Jahrhundertwende sogar zur Gründung
eines eigenen »Bureaus für jüdische Statistik« mit Sitz in Berlin kam.274
269 Vgl. Gustav A. Schimmer : Die Juden in Österreich nach der Zählung vom 31. Dezember 1880
(Wien 1881), S. 4.
270 Thon, Juden, S. 9.
271 In absoluten Zahlen : 72 588 Personen. Nach der Eingemeindung der Wiener Vororte im Jahr 1890
sank ihr Prozentanteil auf 8,6 Prozent (118 495 Personen). Vgl. Wolfdieter Bihl : Die Juden, in :
Adam Wandruszka/Peter Urbanitsch (Hg.) : Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. III/2, Die
Völker des Reichs (Wien 1980), S. 880–948, hier : S. 884.
272 Schimmer, Statistik, S. 5.
273 Schimmer, Statistik, S. 7.
274 Sein erster Direktor war Arthur Ruppin. Vgl. Kernmayer, Assimilation, Dissimilation, Transkultu-
ration, in : Csáky (Hg.) Kultur – Identität – Differenz, S. 1–17, hier : S. 12.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271