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Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
eine jüdische Privatschule, den Cheder, so wuchs der Anteil von Kindern jüdischen
Bekenntnisses an öffentlichen Schulen im Jahrzehnt nach 1880 um 54,5 Prozent.374
Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes
Im Zuge der Umsetzung der neuen Gesetze kam es jedoch auch zur Schaffung einer
neuen Schulform, die kaum in der Intention des Gesetzgebers gelegen sein dürfte :
der Nationalitätenschule (auch »Minoritätsschule« genannt), eine Besonderheit des
altösterreichischen Unterrichtswesens, die sich einerseits aus der Bestimmung des
Reichsvolksschulgesetzes ergab, wonach Volksschulen von den Gemeinden überall
dort zu errichten waren, wo nach einem fünfjährigen Durchschnitt mehr als 40 Kin-
der in einem Umkreis von vier Kilometern vorhanden waren, andererseits aus den
Erfordernissen des Absatz 3 des Artikel 19 des Staatsgrundgesetzes, des oben be-
schriebenen »Sprachenzwangsverbots«, die es notwendig machten, in gemischtspra-
chigen Gemeinden, sofern die Eltern dies wünschten, für jede der vorhandenen Na-
tionalitäten Schulen mit je eigener Unterrichtssprache zu errichten.375 Unterstützt
und angeheizt von den nationalen Schul- und Schutzvereinen kam es bald zu einem
Krieg ganz besonderer Art, in der teilweise aus finanziellen Erwägungen – die Ge-
meinden mussten selbst für den Erhalt ihrer Schulen aufkommen –, hauptsächlich
aber aus dem Grund der »Wahrung des nationalen Besitzstandes« mit allen Mitteln
versucht wurde, die Errichtung einer Schule mit der Unterrichtssprache des nationa-
len Gegners zu verhindern.
Und immer wieder waren es gerade jüdische Kinder, die zwischen die Mühlsteine
des Nationalitätenkampfes gerieten. So fällte im Jahr 1880 das Reichsgericht zwei
aufsehenerregende Urteile. Beide betrafen das Volksschulwesen in Galizien. Beide
betrafen Minderheiten. Mit ersterem wurde das Begehren ruthenischer (ukraini-
scher) Eltern nach einer Volksschule mit ruthenischer Unterrichtssprache in Lem-
berg durchgesetzt376, mit letzterem das Begehren der (überwiegend) jüdischen Be-
völkerung Brodys gegen den Zwang, ihre Kinder in Volksschulen mit polnischer
Unterrichtssprache schicken zu müssen. Die zweite Beschwerde – der Vertreter der
Stadtgemeinde Brody war der bekannte jüdische Anwalt und Abgeordnete Heinrich
Jaques – löste innerhalb des Unterrichtsministeriums eine heftige Kontroverse dar-
374 Wolfdieter Bihl : Die Juden in der Habsburgermonarchie 1848–1918, in : Zur Geschichte der Ju-
den in den österreichischen Ländern der Habsburgermonarchie (= Studia Judaica Austriaca VIII)
(Eisenstadt 1980), S. 7–121, hier : S. 48.
375 Burger, Sprachenrecht, S. 44.
376 Erkenntnis des Reichsgerichts Nr. 203 vom 19. Jänner 1880, zit. nach : Burger, Sprachenrecht,
S. 126.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271