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90 Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs
dass – bis auf Ausnahmen – nur getaufte Juden in den höheren Staatsdienst aufge-
nommen wurden.314 Ab den 1880er-Jahren waren es jedoch nicht mehr nur Selb-
ständige, sondern auch die mit der ökonomischen Entwicklung verbundenen neuen
Angestellten : Handlungsgehilfen, Handlungsreisende, (Börsen-)Agenten etc., die
um Aufnahme in die Staatsbürgerschaft ansuchten. Junge Wiener Juden der zweiten
Generation wandten sich, wie Marsha Rozenblit feststellt, zunehmend vom Händ-
ler- und Kaufmannsberuf der Väter ab und wurden bevorzugt »Angestellte, Reisende
und Manager«315 – eine Tendenz, die sich auch in den Einbürgerungsprotokollen
dieser Jahre widerspiegelt.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen
Das Sichtbarmachen von Frauen in der Einbürgerungsstatistik gestaltet sich über-
aus schwierig316, wurden Frauen doch im Allgemeinen als Angehörige (des Vaters,
bzw. Ehemannes) lediglich mit eingebürgert. Aus den Einbürgerungsprotokollen
(der männlichen Familienoberhäupter) erfahren wir den Namen, das Geburts datum
und die »politische Zuständigkeit« der Ehefrau. Seltener als in der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts – noch 1833 waren in Niederösterreich (Wien) 26 Prozent
aller Naturalisierten weiblich317 – wurden Frauen selbständig eingebürgert. In den
wenigen eingesehenen Fällen handelt es sich um verwitwete selbständige Gewerbe-
treibende – so die nach Lackenbach (Burgenland/Ungarn) zuständige, im neunten
Wiener Gemeindebezirk als Branntweinschänkerin tätige Amalie Herzl, die im Mai
1888, zusammen mit ihren drei Kindern, die österreichische Staatsbürgerschaft und
das Heimatrecht in der Gemeinde Wien erhielt,318 oder die 46-jährige verwitwete
Glasermeisterin Rosa Löwy, geb. Reisz, die im dritten Wiener Gemeindebezirk eine
Glaserei betrieb und nach über zwanzigjährigem Aufenthalt in Wien, nach erfolg-
ter Entlassung aus dem ungarischen Staatsverband, die österreichische Staatsbür-
gerschaft erhielt.319 In beiden Fällen scheint die soziale und rechtliche Absicherung
314 Noch bei der letzten Volkszählung im Jahr 1910 wurden für Wien im Öffentlichen Dienst nur
1045 männliche und 69 weibliche jüdische Bedienstete ausgewiesen, 8,6 Prozent, gegenüber 14,2
Prozent bei der nichtjüdischen Bevölkerung. Goldhammer, Die Juden Wiens, S. 50f.
315 Während nach Rozenblit unter den männlichen jüdischen Heiratenden in Wien im Jahr 1870
noch die selbständigen Kaufleute mit 55,6 Prozent dominierten und sich nur 2,8 Prozent Handels-
angestellte fanden, waren es um 1900 schon 29,6 Prozent Handelsangestellte und nur mehr 45,8
Prozent Kaufleute. Rozenblit, Juden, S. 59, Tabelle 3 :2.
316 Vgl. Elisabeth Malleier : Jüdische Frauen in Wien 1816–1938 (Wien 2004), S. 19ff.
317 Vgl. Burger, Passwesen und Staatsbürgerschaft, S. 154ff.
318 WStLA, Hauptreg. P 1, Nr. 305399/86.
319 WStLA, Hauptreg. P 1, Nr. 9609/81.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271