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200 Staatenlosigkeit als Massenschicksal
wandlung gewesen sein, die vielfältigen Seinsformen, die Möglichkeit, auch Tier, zu
sein, ein Vogel, ein Schmetterling. Am Taoismus habe ihn immer angezogen, »dass
er die Verwandlung kennt und (sie) gutheißt«.705
In gewisser Weise also scheint das Attribut der Staatenlosigkeit Elias Canetti,
dem sephardischen Juden, dem Osmanen, Orientalen, Engländer, Österreicher,
Europäer, durchaus entsprochen zu haben, seinem Dazwischen-Sein, seiner Hybri-
dität, seiner »Ichlosigkeit«. Ein Verhängnis scheint er
– anders als Hannah Arendt
–
darin nicht gesehen zu haben, eher ein bürokratisches Ärgernis. Aus politischer
Naivität, die Canetti gern unterstellt wird ? Kaum. Ich denke, dass seine Jahr-
zehnte währende Staatenlosigkeit zwar keineswegs immer ein freiwillig gewählter
Zustand gewesen war, doch im Innersten seinem Wunsch entsprochen hat, sich
keiner Nation und keinem Staat ganz zu verbinden, einem zornigen, anarchisti-
schen, aus tausendfacher Demütigung kommendem Widerspruch gegen Macht
und Gewalt.
»… durch Abstammung wie Wahlverwandtschaft ein Ostjude«.
Der Fall Manès Sperber706
Er sei, so Manès Sperber zu Beginn einer Dankadresse anlässlich der Verleihung
des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Herbst 1983 in der Frankfurter
Paulskirche, der zweite Laureat (nach Martin Buber), »der durch Abstammung wie
Wahlverwandtschaft ein Ostjude« sei.707 Hatte sich Manès Sperber in früheren Jah-
ren eher als Weltbürger und »skeptischen Humanisten«, als ketzerischen Sozialisten,
Agnostiker oder allenfalls als »europäischen Juden« bekannt, so bestand er jetzt
– we-
nige Monate vor seinem Tode – darauf, ein »Ostjude« zu sein – ein Begriff, dessen
pejorative Konnotationen ihm nur allzu vertraut waren.
Als Manès Sperber am 5. Februar 1984 in Paris starb, herrschte bei seinen Nek-
rologen hinsichtlich seiner Nationalität heillose Verwirrung. In den in den europäi-
schen Medien überaus zahlreich erschienenen Nachrufen wurde er bald als französi-
scher, bald als (alt)österreichischer Schriftsteller, als »austrofrancese« (Corriere della
Serra), als polnisch-jüdischer Schriftsteller oder als »écrivain autrichien, naturalisé
français« (Le Quotidien de Paris) gewürdigt. Zwar wurde immer wieder auf die exis-
705 Canetti, Provinz des Menschen, S. 279.
706 Erweiterte Fassung eines Vortrags beim 14. Symposium Kulturraum Donau : Manès Sperber –
Dichtung gegen Tyrannis, 29./30. September 2006, in Wien.
707 Dankadresse des Preisträgers anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buch-
handels am 16. Oktober 1983 in der Paulskirche, vorgetragen von Alfred Grosser. Nachlass Manès
Sperber im Österreichischen Literaturarchiv (im Folgenden : ÖLA) in der Österreichischen Natio-
nalbibliothek (ÖNB), Mappe 2/449.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271