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38 Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus
meindeleben ein. Viele der angeordneten Maßnahmen scheiterten, wie es der gali-
zische Statthalter vorausgesehen hatte, am beharrlichen Widerstand vor allem armer
galizischer Landjuden. Aus Angst vor Katholisierung weigerten sich viele, ihre Kinder
in die neu errichteten »Normalschulen« zu schicken. Vor allem die Buben besuchten
weiterhin den Cheder oder die traditionellen Talmud-Thoraschulen. Die Ansiedlung
jüdischer Bauern in eigens errichteten jüdischen Kolonien, etwa in Neu-Sandez/Novy
Sasz, scheiterte nicht zuletzt, wie Svjatoslav Pacholkiv nachweist, am »stummen Wi-
derstand der Beamten und Gutsherren vor Ort«.118 Und »die Aufhebung aller Unter-
scheidungen hinsichtlich der Kleidung« musste auf Bitten orthodoxer Juden von Kai-
ser Leopold II. ausdrücklich wieder aufgehoben werden119, ebenso wie die allgemeine
Militärpflicht, die man durch die Möglichkeit des Loskaufens abmilderte.120
Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes«
Dessen ungeachtet entspann sich noch im Jahr des Erscheinens des galizischen Paten-
tes zwischen den Hofstellen eine lebhafte Diskussion darüber, ob das weitreichende
galizische Judensystem auch in anderen Erblanden eingeführt werden solle. Die nie-
derösterreichische Regierung wehrte sich dagegen mit dem Argument, dass seine An-
wendung auf Niederösterreich ganz unzweckmäßig sei, da »die meisten Anordnungen
des galizischen Patents, so weit sie nämlich auf die Einrichtungen bei den Gemein-
den, Bestellung der Obrigkeiten, auf Synagogen und ihren Gottesdienst Bezug haben,
in Österreich unter der Enns bei der bestehenden Verfassung nicht anwendbar« seien,
weshalb man »auch in Ansehung der übrigen Gegenstände« einstimmig erachte, dass
man von einer Kundmachung des galizischen Patents oder auch nur einiger seiner Ar-
tikel für Niederösterreich absehen solle. Die Hofkanzlei hob in ihrem Vortrag hervor,
dass man die meisten Anordnungen schon deshalb nicht auf die niederösterreichische
Situation übertragen könne, weil in Wien bereits »alle Unterscheidungen zwischen
den Kleidern ganz aufgehoben, und die Juden bei politischen und Rechtsbehörden
mit den Christen in allen Stücken gleichgehalten« seien. Die galizische Judenord-
nung sei zum einen wegen des »Unterschieds in der Verfassung« nicht anwendbar,
zum anderen aber »wegen der hierlandes ohnehin schon bestehenden Vorschriften
118 Svjatoslav Pacholkiv : Das Werden einer Grenze, in : Heindl/Saurer (Hg.) : Grenze und Staat, S.
519–
620, hier : S. 600.
119 A.F. Příbram (Hg.) : Quellen und Forschungen zur Geschichte der Juden in Deutsch- Österreich,
Bd. VIII, Urkunden und Akten zur Geschichte der Juden in Wien, Erste Abteilung, Bd. 2 (Wien/
Leipzig 1918), S. 283.
120 Leopold II. erlaubte jüdischen Rekruten den Loskauf vom Militärdienst gegen die Zahlung von 30
Gulden. Vgl. Schmidl, Juden in der k.(u.)k. Armee, S. 41.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271