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Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
zugutekommen sollte, in den Jahren 1907–1908 bei der Prager Niederlassung der
Triester Versicherungsanstalt »Assicurazioni Generali« (in dieser Zeit lernte Kafka
auch Italienisch), später bei der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt, in der zwei-
sprachig amtiert wurde und unter deren Dach er im Kriegsjahr 1915 die Abwicklung
der staatlichen Fürsorge für heimkehrende Soldaten (Kriegsbeschädigtenfürsorge)
übernahm.349 Nicht zuletzt garantierten seine Tschechischkenntnisse sowie seine
Loyalität gegenüber der jungen Tschechoslowakischen Republik seine bruchlose
Weiterbeschäftigung bei der gleichen Anstalt nach 1918.350
Franz Kafka war, nach den Zeugnissen seiner Biographen, ein überaus pflichtbe-
wusster Beamter mit einem, wie ihm sein Freund Max Brod bescheinigte, unüber-
trefflichen Gerechtigkeitsgefühl.351 An den leidenschaftlichen Auseinandersetzungen
seiner Zeit um Sprache und Nationalität, insbesondere in seiner Heimatstadt Prag,
beteiligte er sich nicht. Seine Haltung dazu war gekennzeichnet von Abscheu und
Distanz. Dennoch war er von der Intensität der Kämpfe, vom Riss, der bis in die
eigene Familie reichte, tief betroffen.352 Viele seiner Texte, insbesondere die nachge-
lassenen Fragmente, spiegeln Gefangensein, Hoffnungslosigkeit und tiefe Agonie –
the agony of entrapment, wie William McCagg es genannt hat.353 Doch Kafkas fragile
Existenz schuldet sich nicht nur dem Spannungsverhältnis zwischen den Nationali-
täten, sondern ebenso sehr seiner prekären jüdischen Identität. Überliefert ist sein
lebenslanges Schwanken zwischen Befreiungsversuchen einerseits und tiefer Hin-
wendung zum Judentum andererseits (seine Selbstcharakterisierung als »glaubens-
loser Jude«, seine Betroffenheit vom Elend der galizischen Flüchtlinge in Prag, sein
Interesse am jiddischen Theater, seine Faszination durch den Chassidismus, dessen
Mythen und Märchen er in seinen Texten verarbeitet).354
Die Bedeutung von Bildung im Judentum
Kafkas Bildungsgang war in gewisser Weise ein exemplarischer. Bildung wurde für
die Epoche nach dem Ausgleich zu einem Schlüsselbegriff, und sie wurde zu einer
Chiffre für den Aufstieg der Juden. Mit dem Inkrafttreten der Dezemberverfassung
349 Vgl. Binder, Kafka, S. 126f sowie Hermes, Chronik, S. 14, 19.
350 Simona Svingrová : Tschechisch oder Deutsch ? Auf dem Weg von Konkurrenz zu Dominanz. Zum
Einsatz von innerer und äußerer Amtssprache in der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt im Prag
der Kafka-Zeit (1908–1922), in : Marek Nekula et al. (Hg.) : Kafka im sprachnationalen Kontext,
a.a.O., S. 129–150, hier : S. 139.
351 Max Brod : Franz Kafka. Eine Biographie (Berlin 1954), S. 205.
352 Vgl. Nekula, Kafkas Sprachen und Identitäten, S. 135f.
353 William O. McCagg : A History of Habsburg Jews, 1670
–1918 (Bloomington/Indianapolis 1989),
S. 179f.
354 Binder, Kafka, S. 468f. Siehe dazu auch : Wambach : Ahasver, S. 61ff.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271