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40 Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus
(insbesondere nachdem diese nach dem Tod Josephs II. wieder empfindlich einge-
schränkt wurden). So reagierte Kaiser Leopold II. auf eine »Bittschrift der hiesigen Ju-
denschaft« wegen eines im Druck erschienenen »für selbe sehr kränkenden Circulars«
mit dem Auftrag an den niederösterreichischen Regierungspräsidenten Grafen von
Sauer, »sogleich ein anderes für diese Nazion nicht kränkendes Circular« zu entwer-
fen und dieses noch vor der Kundmachung seinem Sohn, dem Erzherzog Franz, zur
Genehmigung vorzulegen.125 Das neue Selbstbewusstsein der Juden als Staatsbürger
war es auch, das
– als es im Jahr 1792 zur Wiedereinführung der von Joseph II. abge-
schafften Bollettentaxe126 kam – zu einer umfangreichen Beschwerdeschrift der Wie-
ner Tolerierten an die Niederösterreichische Landesregierung führte. Im Sinne des
Toleranzpatentes forderten die neu gewählten Vertreter der Wiener Juden unter an-
derem das Recht zum Ankauf und Besitz von Staatsgütern, das Recht, auf dem Lande
zu wohnen und dort Grund zu erwerben, das Recht, ein Gewerbe zu betreiben, die
Zulassung zu öffentlichen Ämtern, die Entfernung der diskriminierenden Aufschrift
»für Juden, Sesselträger und Fiaker« sowie die Unterlassung der Adressierung »an den
Juden N.N.« bei amtlichen Schriftstücken.127
Das Judenamt
Nur die letzten beiden Begehren wurden umgehend erfüllt. Über die übrigen Forde-
rungen und darüber, wie die »Masse der inländischen und fremden Juden« künftig
zu behandeln sei, wurde ein Gutachten bei der niederösterreichischen Landesregie-
rung in Auftrag gegeben. Eine seitens der Bittsteller eher ungewollte Konsequenz
dieser Petition war der Vorschlag der niederösterreichischen Regierung, »wegen der
zunehmenden Zahl der Juden und um den Toleranzerlässen künftig mehr Zuverläs-
sigkeit zu geben«, für alle Belange der Judenschaft ein eigenes »Judenamt« zu errich-
ten.128 Kaiser Franz II. stimmte im Staatsrat zunächst nur zögernd zu : »Mit dem von
der Regierung und der Kanzlei eingerathenen Judenamt kann ein Versuch gemacht
werden, wovon Mir nach dem Verlauf eines Jahres der Erfolg anzuzeigen, inzwischen
aber das dazu erforderliche Personal nur provisorisch anzustellen ist.«129 In einer
125 AVA Inneres, Hofkanzlei IV T 1, Nr. 160 aus März 1791.
126 Eine Art Leibmaut, die nichtansässige Juden für ein ein- bis höchstens vierzehntägiges Aufenthalts-
recht in Wien zu zahlen hatten. Vgl. Ludwig Bato : Die Juden im alten Wien (Wien 1928), S. 123.
127 Vgl. Wolf, Juden in Wien, S. 98.
128 AVA Inneres, Hofkanzlei IV T 1, Nr. 254 aus Juli 1792.
129 HHStA, Protokolle des Staatsrats 1792, Nr. 3268. Nach einem Probelauf von einem Jahr war der
»Erfolg« dem Kaiser anzuzeigen. Das betreffende Circular an sämtliche Hofräte trägt die Unter-
schrift Joseph von Sonnenfels’. AVA Inneres, Hofkanzlei IV T 1, Nr. 254 aus Juli 1792.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271