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Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
(Artikel 2), Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit (Artikel 6), volle Glaubens- und
Gewissensfreiheit (Artikel 14)282 – kurz : full citizenship. Alle Besonderheiten und
Partikularismen, alle alten Beschränkungen auf bestimmte Berufsfelder und Sied-
lungsräume waren damit beseitigt.283 Aus einst bloß Tolerierten waren Staatsbürger
und (mit starken, vor allem familienrechtlichen Einschränkungen) Staatsbürgerin-
nen mit gleichen Rechten und Pflichten geworden. Wenige Tage später wurde auch
in der transleithanischen Reichshälfte (Ungarn) mit Artikel 17 des ungarischen Ver-
fassungsgesetzes – sein Schöpfer war der liberale jüdische Staatsrechtler Joseph von
Eötvös
– die rechtliche Gleichstellung der Juden durchgesetzt.284
Rückkehr in die »verbotene Stadt«
Eine fast unmittelbare Folge der durch das Staatsgrundgesetz gewährten Freizügigkeit
(Artikel 6) war eine gewaltige jüdische Migrationsbewegung. Tausende strömten aus
allen Teilen der Monarchie vor allem in die Metropolen Wien und Budapest. Das
in der älteren Literatur manchmal favorisierte Modell einer Ost-Westwanderung der
Juden, d. h. einer überwiegenden Migration aus den jüdischen »Kernländern« Ga-
lizien und Bukowina285, erweist sich allerdings – zumindest für die ersten beiden
Jahrzehnte nach dem Ausgleich
– als nicht zutreffend. Bereits Leopold Moser fand in
seiner Untersuchung der Grabinschriften des Währinger jüdischen Friedhofs heraus,
dass ein Großteil der Zuwanderer aus den oberungarischen (heute : slowakischen)
Gemeinden Bösing/Pezinok/Bazin, Geiring, Holitsch/Holič, Joka Korompa/Krom-
pachy, Kuklov/Kukló, Groß-Magendorf/Velký Mager sowie den früheren Wiedertäu-
fergemeinden Senitz und Sobotiz) kam, alles Gemeinden, die nahe der (nieder)öster-
reichischen Grenze lagen, deren Hausierer und Händler schon früher in lebhaftem
Handel mit Wien gestanden seien und »deren Einwohnerschaft sich in der Mehrzahl
aus Nachkommen mährischer Juden zusammensetzte«.286 Die noch unabgeschlos-
sene jüngste Untersuchung des »Gräberbuchs« des Währinger Friedhofs bestätigt
282 RGBl. Nr. 142/1867.
283 Vollendet wurde die Emanzipation der Juden durch die Interkonfessionellen Gesetze sowie die
sogenannten Maigesetzte des Jahres 1868.
284 Vgl. Gerald Stourzh : The Age of Emancipation and Assimilation – Liberalism and its Heritage,
in : Hanni Mittelmann/Armin A. Wallas (Hg.) : Österreich-Konzeptionen und jüdisches Selbstver-
ständnis. Identitäts-Tranfigurationen im 19. und 20. Jahrhundert (Tübingen 2001), S.
11–28, hier.
S. 11f.
285 Vgl. Anson G. Rabinbach : The Migration of Galician Jews to Vienna, 1857–1880, in : The Aus-
trian History Yearbook, Bd. 9 (1975), S. 42–54.
286 Leopold Moser : Spaziergänge, in : P. Steines (Hg.) : Studien und Skizzen zur Geschichte der Juden
in Österreich (Wien 1994), S. 48–59, hier : S. 56f.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271