Seite - 213 - in Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden - Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
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Semantische Nachbemerkungen
»Dass lässt mich darüber nachdenken, was es bedeutet, sich einem Ort zugehö-
rig zu fühlen. Charles starb als Russe in Paris. Viktor hielt das für falsch ; er war
fünfzig Jahre lang ein Russe in Wien, dann Österreicher, dann Bürger des Deut-
schen Reichs, dann staatenlos. Elisabeth behielt fünfzig Jahre lang in England die
niederländische Staatsbürgerschaft. Und Iggi war Österreicher, dann Amerikaner,
dann ein in Japan lebender Österreicher. Man assimiliert sich, aber einen Ort muß
es geben, wo man hingehen kann. Man hält den Pass bereit. Man behält etwas
Privates.« Mit diesen Sätzen beendet Edmund de Waal seinen Roman »Der Hase
mit den Bernsteinaugen«, mit welchem er seiner Familie, den aus Russland stam-
menden Ephrussi, ein grandioses Denkmal setzte.741 Hier wie in den vorstehenden
drei biographischen Fallstudien : Martha Raviv, Elias Canetti, Manès Sperber wird
deutlich, wie sehr Heimatrecht und Staatsbürgerschaft oder, umgekehrt, ihr Ver-
lust, Leben und Identität von Menschen – in gleich welcher Staatsform – prägen
konnten.
Heute scheint die Bedeutung von Staatsbürgerschaft im Schwinden begriffen zu
sein. Veränderte Lebensentwürfe und Karriereverläufe, Lebensphasen in mehreren
Staaten, gemischtnationale Ehen und Familien sowie Metastaatsbürgerschaften wie
die »Unionsbürgerschaft« der Europäischen Union scheinen das herkömmliche, an
den Nationalstaat gebundene Staatsbürgerschaftsmodell gleichsam von innen her
aufzusprengen. Trotz gegenläufiger nationalstaatlicher Strategien sei ein »Leichter-
werden« der Staatsbürgerschaft (»Lightening of Citizenship«), gibt sich Christian
Joppke überzeugt, unvermeidlich.742 Längst schon werden Fragen einer multinati-
onalen oder transnationalen Staatsbürgerschaft diskutiert – dies vor allem deshalb,
weil sich Staat und Gesellschaft einem neuen Typus von Migration gegenüberse-
hen, d. h. einer Migrantengeneration, die sich aus den verschiedensten Gründen
nur bedingt oder gar nicht mehr integrieren kann oder will.743 Bemerkenswert an
741 De Waal, Hase, S. 325.
742 Christian Joppke : The Inevitable Lightening of Citizenship, in : European Journal of Sociology 51
(1) (2010), S. 9–32.
743 Nina Glick Schiller/Linda Basch/Christina Blanc Szanton : Transnationalismus : Ein neuer analy-
tischer Rahmen zum Verständnis von Migration, in : Heinz Kleger (Hg.) : Transnationale Staats-
bürgerschaft (Frankfurt a. M. 1997) S. 81–108 ; siehe dazu auch die Studie von : Gökce Yurdakul/
Michal Bodemann : Staatsbürgerschaft, Migration und Minderheiten (Wiesbaden 2010) sowie die
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271