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112 Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit
Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen
Dass das aufstrebende jüdische Bürgertum seine Söhne bevorzugt in Mittelschulen
mit deutscher Unterrichtssprache
– und hier wiederum in jene vom Typus des klassi-
schen humanistischen Gymnasiums
– schickte, ist durch die Forschungen Marsha L.
Rozenblits und Steven Bellers gut belegt. Die Gründe dafür mögen im hohen Pres-
tige dieser Lehranstalten zu suchen sein, wohl auch darin, dass sich jüdische Knaben
aufgrund ihrer Erziehung, die das frühe Erlernen des Hebräischen implizierte, mit
den hohen Ansprüchen in den klassischen Sprachen an den Gymnasien leichter ta-
ten, vor allem aber in den angestrebten Studienfächern Jus und Medizin, die den
Weg in die freien Berufe ebneten.385
In Wien betrug, bei einem jüdischen Bevölkerungsanteil von rund 10 Prozent, der
Anteil jüdischer Schüler an den Gymnasien und Realgymnasien vom Jahr 1875 an bis
zur Jahrhundertwende ziemlich konstant 30 bis 35 Prozent, um dann wieder leicht ab-
zusinken. An einzelnen Anstalten der Inneren Stadt, der Leopoldstadt und dem Alser-
grund, waren bis zu vier Fünftel der Schüler jüdischer Konfession.386 Spitzenreiter war
das Erzherzog-Rainer-Gymnasium im zweiten Wiener Gemeindebezirk mit einem An-
teil von über 80 Prozent jüdischer Schüler.387 In Prag besuchten ebenfalls bemerkens-
wert konstant zwischen 1875 und 1910 45 bis 46 Prozent jüdischer Schüler deutsch-
sprachige Gymnasien und nur 3,8 Prozent tschechischsprachige.388 In der ungarischen
Hälfte der Monarchie war bezüglich des jüdischen Anteils an Sekundarschulen eine
ähnliche Entwicklung zu verzeichnen.389 Besonders hoch war der Anteil jüdischer
Schüler an den evangelischen Gymnasien, wo sie regelmäßig die Majorität stellten.390
Allerdings verstellt der Fokus der Forschung auf das Zentrum und auf die bürger-
lichen Eliten in den Städten den Blick nicht nur auf die Masse der armen Landjuden,
deren Verhältnis zu ihrer Umgebungsbevölkerung noch wenig erforscht ist391, son-
385 So betrug im Jahr 1890 der Anteil jüdischer Medizinstudenten an der Wiener Universität 48
Pro zent, jener der Jusstudenten 22 Prozent. Vgl. Steven Beller : Wien und die Juden 1867–1938
(Wien/Köln/Weimar 1993), S. 43, Tabelle 2.
386 Vgl. Rozenblit, Juden Wiens, S. 109.
387 Ebenda, Tabelle 5.1, S. 112.
388 Österreichische Statistik. Neue Folge 8.2, 1875, S. 48–55 und 1910, S. 52–55, sowie Rozenblit,
Juden Wiens, S. 115.
389 Für die Jahre 1908–1914 beträgt er 34 Prozent. Vgl. Victor Kárady, The ›Smart Jew‹ in Pre-1919
Hungary. Educational Investments and Cultural Assimilation, Kakanienrevisited 29/09/2004
(www.kakanien.ac.at/beitr/fallstudie/VKarady1.pdf, S. 1–4).
390 Ebenda, S. 4.
391 Neuerdings dazu : Wilma A. Iggers : Geschichte einer ländlichen Familie zwischen Deutschen und
Tschechen, in : Marek Nekula/Walter Koschmal (Hg.), Juden zwischen Deutschen und Tschechen.
Sprachliche und kulturelle Identitäten 1800–1945 (München 2006), S. 19–32.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Untertitel
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Autor
- Hannelore Burger
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271