Seite - 33 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
Bild der Seite - 33 -
Text der Seite - 33 -
Peter Handke hingegen gehörte schon im Zuge seiner Etablierung im literari-
schen Feld zu jenen Autoren, die, zumal in den ersten Jahren ihrer schriftstelle-
rischen Laufbahn, die Rechtfertigung ihrer spezifischen Schreibweise gerade
durch die exzessive „Kommentierung eigener wie auch fremder Texte“ betrieben,
um, so Otto Lorenz, „die Differenz zu Vorgängern und Mitkonkurrenten kennt-
lich [zu] machen“.28 Die ab Ende 1964 verfassten Rundfunkfeuilletons für das
steiermärkische Regionalradio stellten dafür ein wichtiges Übungsfeld dar, auf
dem Handke das Wechselspiel von Rezensieren und (verdeckter) poetologischer
Selbstreflexion erproben konnte. Als nachgerade prototypischer „Stratege im
Literaturkampf“ 29 hat Handke in der Folge ein ganzes Ensemble unterschied-
licher Genres in Stellung gebracht und deren mitunter virtuoses Zusammenspiel
im Sinne einer vielschichtigen ‚Werkpolitik‘ ausgestaltet.
Die Polemiken gegen die Institution der Literaturkritik sind dabei, wie ich
zu zeigen versuche, eng mit seiner eigenen Rezensionstätigkeit verknüpft, die
sich betont von etablierten Formen der Kritik distanziert. Kommentiert Handke
Bücher von Kolleginnen und Konkurrenten, erweisen sich die Besprechungen,
die Lobreden ebenso wie die Verrisse, nicht selten als poetologische „Statement[s]
in eigener Sache“.30 Wenn Handke etwa 1965 in der Wiener Literaturzeitschrift
Wort in der Zeit und in der „Bücherecke“ des steiermärkischen Regionalradios
über das „sprachliche Verfahren“ und die ästhetischen Bauprinzipien von Ror
Wolfs Fortsetzung des Berichts referiert, werden damit ein Stück weit auch die
literarischen Arbeiten des Rezensenten selbst vorbereitet.31 Die Verhandlungen
über das ästhetische Potential ‚fremder‘ Texte sind, ebenso wie die Invektiven
gegen die Maßstäbe und Kriterien der zeitgenössischen Literaturkritik, stets auf
das eigene Schreiben, auf die Verfahren eigener literarischer Arbeiten bezogen.
28 Otto Lorenz: Pro domo – Der Schriftsteller als Kritiker. Zu Peter Handkes Anfängen. In:
Literatur kritik – Anspruch und Wirklichkeit. DFG-Symposion 1989. Hg. v. Wilfried Barner.
Stuttgart: Metzler 1990, S. 399 – 414, hier S. 399 f.
29 Walter Benjamin: Einbahnstraße. In: W. B.: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung v. Theodor
W. Adorno u. Gershom Scholem hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Bd.
IV.1.
Hg. v. Tillman Rexroth. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972, S. 83 – 148, hier S. 108; dazu u. a.
Wolfgang Albrecht: Literaturkritik. Stuttgart, Weimar: Metzler 2001, S. 92 – 94; Lorenz: Pro
domo (Anm. 28), S. 403.
30 Anna Estermann: Vom „bloß sprachlichen“ zu einem „allumfassenden Realismus“. Handkes ‚rea-
listic turn‘ um 1970. In: Schreiben als Weltentdeckung. Neue Perspektiven der Handke-Forschung.
Hg. v. A. E. u. Hans Höller. Wien: Passagen 2014, S.
97 – 134, hier S.
107; vgl. ebd., S.
127, Anm.
49.
31 Peter Handke: Ror Wolf: Fortsetzung des Berichts. In: Wort in der Zeit 11 (1965), H.
3, S.
59 – 60,
hier S.
59; vgl. Peter Handke: „Bücherecke“ vom 26. 4. 1965. In: P. H.: Tage und Werke. Begleit-
schreiben. Berlin: Suhrkamp 2015, S.
211 – 217, hier S.
211 f.
– Zur Zeitschrift Wort in der Zeit als
Rezensionsorgan vgl. Wolfgang Hackl: Kein Bollwerk der alten Garde – keine Experimentier-
bude. Wort in der Zeit (1955 – 1965). Eine österreichische Literaturzeitschrift. Innsbruck: Institut
für Germanistik 1988, S. 156 – 168. Legitimationen und Strategien 33
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471