Seite - 44 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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allgemeine, fĂŒr viele offenbar nicht eindeutig zuordenbare EinwĂ€nde gegen
eine âganz, ganz unschöpferische Periode in der deutschen Literaturâ.69 In der
Folge setzt er die diagnostizierte KonventionalitÀt und die fehlende innovative
Potenz der Gegenwartsliteratur mit der intellektuellen TrÀgheit der Literaturkritik
in Beziehung. Tauche nĂ€mlich âeine neue Sprachgestikâ im Feld der Literatur
auf, reagiere die Kritik reflexhaft mit âBeschimpfungenâ und dem Vorwurf der
âLangweiligkeitâ oder gehe lediglich âauf gewisse einzelne SprachschwĂ€chenâ ein,
âdie sicher noch vorhanden sein werdenâ.70 Eine eingehende und vorurteilsfreie
PrĂŒfung neuer Textverfahren und avancierter ZugĂ€nge finde jedoch nicht statt,
wĂ€hrend Altbekanntes mit bewĂ€hrten MaĂstĂ€ben gemessen werde.
Handke skizziert ein Klima der Innovations- und Experimentierfeindlich-
keit, an dem die kritischen Instanzen und meinungsbildenden Foren der litera-
rischen Ăffentlichkeit eine Mitschuld trĂŒgen. Vor Hans Werner Richters erstem
Ordnungsruf, es sei âhier nicht ĂŒblichâ, âeine literarhistorische Redeâ zu halten,
betont er noch einmal explizit die doppelte Adressierung seines Einspruchs:
âDas Instrumentarium der Kritik ist genau dieser Literatur adĂ€quat, die hier im
Vorgang ist.â 71 Handkes Princetoner Intervention gegen die âBeschreibungsim-
potenzâ forderte folglich nicht nur die zeitgenössischen Autoren und ihr Ver-
stÀndnis von Literatur heraus,72 sondern auch und im Besonderen die vor Ort
anwesenden und die Diskussionen dominierenden Kritiker.73 Als Volte gegen
deren begriffliches und methodisch-theoretisches âInstrumentariumâ konzipiert,
die die âLiteraturkritik als veraltet verhöhntâ,74 stellten Handkes pointierte ĂuĂe-
rungen eine âProvokation der Kritikâ in einem doppelten Sinne dar: einerseits als
gezielte Infragestellung der textanalytischen Kompetenz der etablierten Instanzen
14. 10. 2020); die bislang ausfĂŒhrlichste Interpretation der Tonbandaufnahmen hat Jörg Döring:
Peter Handke beschimpft die Gruppe 47. Siegen: universi 2019, bes. S. 59 ff., vorgelegt.
69 Handke: Im Wortlaut (Anm. 64), S. 17.
70 Ebd., S. 18.
71 Ebd.
72 Dass sich Handkes Angriff weniger gegen etablierte Gruppe-47-Autoren wie GĂŒnter Grass rich-
tete, sondern zuallererst gegen die (vergleichsweise jungen) Verfechter eines âNeuen Realismusâ
im Umkreis der âKölner Gruppeâ (Dieter Wellershoff, Nicolas Born u. a.), hat Estermann: Vom
âbloĂ sprachlichenâ zu einem âallumfassenden Realismusâ (Anm. 30), bes. S. 98 f., gezeigt.
73 Vgl. Lorenz: Pro domo (Anm. 28), S. 408; Werner Graf: Peter Handke und seine Kritiker. Zu
Motiven der Rezeption von Gegenwartsliteratur. In: Literatur fĂŒr Leser 27 (2004), H.Â
2, S.Â
89 â 101,
bes. S. 100; Norbert Christian Wolf: Autonomie und/oder Aufmerksamkeit? Am Beispiel der
medialen Erregungen um Peter Handke, mit einem Seitenblick auf Marcel Reich-Ranicki. In:
Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der
Gegenwart. Hg. v. Markus Joch, York-Gothart Mix u. N. C. W. TĂŒbingen: Niemeyer 2009,
S. 45 â 63, hier S. 50 f.
74 Gabriele Feulner: Mythos KĂŒnstler. Konstruktionen und Dekonstruktionen in der deutsch-
sprachigen Prosa des 20. Jahrhunderts. Berlin: Erich Schmidt 2010, S. 223.
âich kann mich damit schwer abfindenâ: Kritik der Kritik als
Werkpolitik44
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471