Seite - 67 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
Bild der Seite - 67 -
Text der Seite - 67 -
Akteure im literarischen Feld auf die folgende Formel kondensiert, die strukturell
von ferne an die doppelte Polemik
– als Autoren- und Kritikerschelte
– des jungen
Peter Handke in Princeton erinnert: „Lauter kitschiger und kopfloser Schmar-
ren wird gedruckt“, so Bernhards Brief an seinen Verleger vom 1. August 1985,
„das ist über so viele Jahre schon deprimierend. Die Schriftsteller sind kunstlose
Dummköpfe und die Kritiker sentimentale Schwätzer.“ 12
Handkes Einwände gegen die Literaturkritik erweisen sich bereits auf den ers-
ten Blick als differenzierter – gerade sein früher Essay Marcel Reich-Ranicki und
die Natürlichkeit (1968) argumentiert, ungeachtet seiner polemischen Agenda, auf
hohem literaturtheoretischem Niveau.13 Im Gegensatz zu Bernhard seltener auf
pauschale Diffamierungen beschränkt, konstatierte Handke gleichwohl seit langer
Zeit und in immer neuen Anläufen ein fundamentales Unvermögen vieler Kriti-
ker, literarische Texte in ihrer spezifischen künstlerischen Logik zu begreifen. Das
„Kultur
geschwätz deutscher Feuilletonisten“ 14 reizte ihn bei vielen Gelegenheiten
zum entschiedenen Widerspruch. Zudem hat Handke ein ums andere Mal gegen die
Literaturkritiker den Vorwurf der Unsinnlichkeit erhoben, die mit einer Unfähig-
keit zur vorurteilsfreien Lektüre einhergehe: „Sehlustfeindlich“ zu sein, hat er in
diesem Sinne Mitte der 1980er Jahre dem „Feuilleton“ in toto attestiert.15 Handkes
Neologismus korrespondiert mit einer Klage, die der Autor in gleich mehreren
Notaten seiner Journalbände festgehalten hat: „So viele, die über Bücher schreiben
(sich auslassen?), machen diese, gerade die wesentlichen, fürs erste unleserlich“.16
Die literaturkritische Kommentierung von Büchern eröffne, so Handke, ihm
und anderen Lesern in vielen Fällen keine Zugänge zum Text, keine Wege zu
dessen individueller Aneignung, sondern verhindere oft das unbefangene Erleb-
nis der Lektüre: „Manchmal denke ich auch, daß das Lesen eine Sache von Leu-
ten geworden ist, die den anderen das Lesen immer mehr unmöglich machen“,
schreibt Handke am 7. Mai 1974 an Hermann Lenz. Während der Lektüre von
Franz Nabls Die Ortliebschen Frauen sei ihm, so Handkes Brief an Lenz, bewusst
12 Bernhard an Unseld, 1. 8. 1985. In: ebd., S. 726.
13 Vgl. Norbert Christian Wolf: Autonomie und/oder Aufmerksamkeit? Am Beispiel der medialen
Erregungen um Peter Handke, mit einem Seitenblick auf Marcel Reich-Ranicki. In: Mediale
Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart.
Hg. v. Markus Joch, York-Gothart Mix u. N. C. W. Tübingen: Niemeyer 2009, S. 45 – 63, hier
S. 53: „Jenseits der Polemik […] besticht Handkes metakritische Diagnose durch ihr sprach-
liches und intellektuelles Niveau sowie durch ein literaturtheoretisches Problembewusstsein,
das man in Reich-Ranickis Rezensionen vergeblich suchen wird.“
14 André Müller: Im Gespräch mit Peter Handke. Weitra: Bibliothek der Provinz 1993, S. 54 f.
15 Peter Handke: Am Felsfenster morgens (und andere Ortszeiten 1982 – 1987). Salzburg, Wien:
Residenz 1998, S. 284.
16 Peter Handke: Gestern unterwegs. Aufzeichnungen November 1987
– Juli 1990. Salzburg, Wien:
Jung und Jung 2005, S. 57. Sehlustfeindliche Schwätzer 67
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471