Seite - 79 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
Bild der Seite - 79 -
Text der Seite - 79 -
zu können meinte. Schon im Essay Zur Tagung der Gruppe 47 in USA, im Juni
1966 als Rechtfertigung und Nachbetrachtung seines Princetoner Auftritts in
der Zeitschrift konkret veröffentlicht, hatte Handke Walter Höllerer, âvon dem
man doch einige gute Gedichte kenntâ, vorgeworfen, âin der Prosa einfach die
Sprache Sprache sein [zu] lassenâ und âwie ein Reporterâ zu schreiben, was die
in Princeton vorgelesene Geschichte âunreinâ gemacht habe: â[A]lle Worte und
Wendungen waren gedankenlos hingeschrieben.â 61 Seine Abneigung gegenĂŒber
den âZeitungsschriftstellernâ, die, wie er 1977 in einer Ă€uĂerst zwiespĂ€l
tigen Lau-
datio auf Herbert Achternbusch formuliert, als handle es sich um eine schwer
zu kurierende Erkrankung, âdas Meinen habenâ,62 hat Handke immer wieder
zu pointierten Distinktionsgesten Anlass gegeben. Dabei geht die Kritik an
den Schreibverfahren anderer Autorinnen und Autoren stets mit der Reflexion
der eigenen Arbeit Hand in Hand: âAus dem Urteilen und Meinen zieh dich
zurĂŒck in die Unschuld des ErzĂ€hlens, wie in den Epikurschen Gartenâ, hĂ€lt er
Anfang August 1989 in St. Moritz im Journalband Gestern unterwegs fest, um
einige Monate spĂ€ter auf dem Weg durch Frankreich zu ergĂ€nzen: âGegen all
das Meinen und Urteilen (meines), mit dem ich mir im Ălterwerden hĂ€Ălicher
und hĂ€Ălicher, hassenswerter und hassenswerter werde, möchte ich, drĂ€ngt es
mich, eine regelrechte Wallfahrt zu unternehmenâ.63
Nimmt man Handkes Kommentare zur österreichischen Gegenwartslite-
ratur in den Blick, dann fÀllt auf, dass er sich im Zeichen der Unterscheidung
zwischen Literatur und Journalismus von ganz unterschiedlichen, kaum auf
einen gemeinsamen literarÀsthetischen Nenner zu bringenden Autorinnen
und Autoren distanziert hat: Sein Verdikt trifft Thomas Bernhard, dem er
1986 im GesprĂ€ch mit Herbert Gamper vorwarf, er schreibe so, âwie wenn ein
61 Peter Handke: Zur Tagung der Gruppe 47 in USA. [1966] In: P. H.: Ich bin ein Bewohner des
Elfenbeinturms. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972, S. 29 â 34, hier S. 33.
62 Peter Handke: Zu Herbert Achternbusch. [1977] In: P. H.: Das Ende des Flanierens. Frankfurt
a. M.: Suhrkamp 1980, S. 101 â 105, hier S. 101. Als schriftstellerisches Gegenprogramm, das
sich fĂŒr ihn aus seinen ernĂŒchternden Wahrnehmungen zum Problem des âMeinensâ ergibt,
skizziert Handke im MĂ€rz 1977, also im Jahr der Achternbusch-Laudatio, auf der vorletzten
Seite des Journalbandes Das Gewicht der Welt das folgende Vorgehen: âDas Betrachten so
lange aushalten, das Meinen so lange aufschieben, bis sich die Schwerkraft des LebensgefĂŒhls
ergibtâ (Handke: Das Gewicht der Welt [Anm.Â
53], S.Â
324). Zum Gegensatz von âMeinenâ und
âErzĂ€hlenâ bei Handke vgl. Katrin Kohl: Poetologische Metaphern. Formen und Funktionen
in der deutschen Literatur. Berlin, New York: de Gruyter 2007, S. 373 f.; Wagner: Bernhard,
Handke und die österreichische Literatur (Anm. 6), S. 42. â Dass âUrteil und Meinung in
den ErzĂ€hlungen Stiftersâ âkaum vorhandenâ seien, kann in diesem Zusammenhang etwa
als ausdrĂŒckliches Lob gelten (Peter Handke: Einige Bemerkungen zu Stifter. [1991] In: P. H.:
Langsam im Schatten. Gesammelte Verzettelungen. 1980 â 1992. Frankfurt a. M.: Suhrkamp
1992, S. 55 â 57, hier S. 56).
63 Handke: Gestern unterwegs (Anm. 16), S. 435 u. 510. Vom Zeitungswahnsinn bedroht 79
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471