Seite - 97 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Jahr zuvor in einem Brief an Unseld 123Â
â, setzt er hier an einzelnen Formulierun-
gen Hartungs an und unterzieht sie einer kritischen PrĂŒfung.
Noch ĂŒber dem Titel von Hartungs Typoskript vermerkt Bernhard mit blauem
Kugelschreiber: âWas soll ich dazu sagen? Es ist eine dieser vielen Kritiken, die
keine Kritiken sindâ, um dem immerhin 17Â
Jahre Àlteren Kritiker gleich eingangs
âtotale Ratlosigkeitâ zu bescheinigen, die er âaberâ â so Bernhards konzilianter
Nachsatz â ânicht ohne Ehrgeizâ festzuhalten versucht habe: âAber bitte! Ich
habe mir natĂŒrlich ein paar Notizen zu diesen Zeilen gemacht, gestern Nacht,
im Hotel, gegenĂŒber dem Kanzler, es war eine so schöne Stimmung.â Und er
platziert noch vor die erste Zeile der Rezension, als Abschluss seiner subversi-
ven âRahmenerzĂ€hlungâ, die Formel: âAlso schreibt Herr Hartungâ, setzt dahinter
einen Doppelpunkt und lĂ€sstÂ
â es liegt nahe, das annotierte Typoskript auch als
Aushandlung von Diskurshoheit zu betrachtenÂ
â erst jetzt den Kritiker selbst zu
Wort zu kommen.124 In der Folge nimmt Bernhard an inhaltlichen Ungenauig-
keiten der Rezension AnstoĂ und kritisiert einzelne Formulierungen Hartungs
als âPhraseâ,125 âHerumgeredeâ, âunbeholfene[n] lyrische[n] Unsinnâ,126 ja fĂŒhlt
sich von âgrauenhafte[n] AusdrĂŒcke[n]â des Kritikers âan liturgische Volks-
tĂŒmeleiâ erinnert.127 Er dokumentiert sein â dem Leser von Hartungs raunend-
unkonkretem Text heute durchaus begreifliches â UnverstĂ€ndnis an manchen
Stellen durch Fragezeichen, kapituliert vor einer besonders erratischen Passage
des Kritikers mit einem lapidaren âDiesen Satz verstehe ich nichtâ,128 um auf den
letzten Seiten des Typoskripts die Frequenz von Kommentaren wie âUnsinnâ,
âdummâ, âbedeutungsschwanger, skurrilâ und âGefaselâ noch einmal zu erhöhen.129
Erweisen sich auch nicht alle EinwĂ€nde Bernhards als gleichermaĂen stich-
haltigÂ
â etwa wenn er Hartung vorhĂ€lt, Ungenach als âErzĂ€hlungâ zu bezeichnen,
obgleich die Erstausgabe selbst den Text ausdrĂŒcklich als eine solche ausweist 130Â
â,
so zeigen seine ĂŒber das siebenseitige Typoskript verteilten Kommentare doch
auf anschauliche Weise, wie ernst und genau Bernhard die Sache nahm: âDie
ewigen Beispiele, ohne die die Kritiker Luft sindâ,131 merkt er an einer Stelle an,
an der Hartung Bernhards Schreiben mit Franz Kafka in Verbindung bringt, und
123 Bernhard an Unseld, 18. 5. 1967. In: Bernhard/Unseld: Der Briefwechsel (Anm. 11), S. 56.
124 Rudolf Hartung: Thomas Bernhard. Mit handschriftlichen Kommentaren von Thomas Bernhard.
[Faksimile u. Transkription] In: Berlin, 17.Â
November 1968. Autoren diskutieren mit ihren Kri-
tikern (Anm. 120), S. 7/20.
125 Ebd.
126 Ebd., S. 11/24.
127 Ebd., S. 13/26.
128 Ebd., S. 15/28.
129 Ebd., S. 17 â 19/30 â 32.
130 Ebd., S. 7/20. Vgl. Thomas Bernhard: Ungenach. ErzÀhlung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1968.
131 Hartung: Thomas Bernhard (Anm. 124), S. 11/24.
Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 97
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471