Seite - 102 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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bereits formulierten Brief an Bernhard schickte Canetti Anfang MĂ€rz 1976 nicht
ab, bewahrte ihn aberÂ
â âals Zeichen dafĂŒr, wie mir wirklich zumute warâ,153 wie
schreibt â bei seinen Unterlagen auf.
Auch zu einer persönlichen Aussprache der beiden kam es in der Folge nicht.
In einem Brief an Hans Reiss vom 30. MÀrz 1976 hielt Canetti fest, Bernhard
habe die âharte Kritik an ihm in meiner Rede [âŠ] offenbar schwer getroffen.
Es zeigt sich, in seiner Reaktion, dass er gar nichts gelernt hat. Meine Kritik war
eine prinzipielle und richtete sich gegen die gewissenlosen Lobhudler des Todes,
die sich in der neueren Literatur immer breiter machen.â 154 WĂ€hrend Canetti
auf eine Entschuldigung wartete und seinen Kontrahenten selbst in privaten
Aufzeichnungen schmÀhte,155 war Bernhard nicht bereit, persönlich Abbitte zu
leisten: âDen moralischen Mut, sich bei mir zu entschuldigen, bringt er nicht
aufâ, so Canetti im Januar 1977 an Wolfgang Kraus, den Bernhard zuvor gebe-
ten hatte, Canetti sein Bedauern ĂŒber den öffentlich ausgetragenen Konflikt zu
versichern: âIch habe es nicht anders erwartet.â 156 Kurz darauf kam Bernhard in
einem ausfĂŒhrlichen Filminterview mit Norbert Beilharz erneut auf das ange-
spannte, von seiner Seite stets ambivalente VerhĂ€ltnis zu Canetti zurĂŒck: Ange-
sprochen auf schreibende Zeitgenossen, berichtete er davon, dass er bei seiner
sporadischen LektĂŒre von Gegenwartsliteratur stets auf Canetti zurĂŒckkomme,
der am Ende âdoch alle ĂŒberragtâ: âEine Hassliebe wahrscheinlich, aber das
entspricht meiner MentalitĂ€tÂ
â und es geschieht ihm recht.â 157 Die Zuerkennung
des Nobelpreises fĂŒr Literatur im Jahr 1981 stellte fĂŒr Canetti wohl auch ange-
sichts seines Konflikts mit Bernhard, der selbst auf diese höchste Auszeichnung
153 Canetti: Das Buch gegen den Tod (Anm. 144), S. 170. Der Brief findet sich abgedruckt ebd.,
S.Â
169. Dort heiĂt es etwa: âIch habe Sie hart kritisiert, und Sie schlagen nun besinnungslos um
sich. [âŠ] Sie reagieren immer blindwĂŒtig auf Kritik. Da ich aber kein Zeitungsschmierer bin,
dachte ich, daĂ ein harter StoĂ von mir, den Sie in Wirklichkeit ganz anders sehen als in Ihrer
Schimpftirade, Sie zur Besinnung bringen könnte. Sie haben niemand, der Ihnen die Wahrheit
sagt, ist sie Ihnen gleichgĂŒltig geworden?â
154 Elias Canetti an Hans Reiss, 30. 3. 1976. In: Canetti: Ich erwarte von Ihnen viel (Anm.Â
135), S.Â
536.
155 Vgl. Elias Canetti: Aufzeichnungen 1973 â 1984. MĂŒnchen, Wien: Hanser 1999, S.Â
27: âEr wendet
sich gegen alles, was nicht er ist.âÂ
â âEr hat eine unreine Haut und hĂ€lt sich fĂŒr den Gekreuzig-
ten. Der Reliquiensammler seiner LodenmĂ€ntel und Wanderschuhe.âÂ
â âUm Geld schimpft er
ausfĂŒhrlicher.â â Bernhard wiederum antwortete im Sommer 1976 in einem Interview auf die
Frage, ob er daran interessiert sei, einmal die Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele zu
halten: âNein! Das hat sogar der Canetti nicht gemacht.â (TBW 22.2, 90)
156 Elias Canetti an Wolfgang Kraus, 4. 1. 1977, zit. nach: Hanuschek: Elias Canetti (Anm.Â
136), S.Â
587.
Zu Bernhards vielfÀltigen Beziehungen zu Kraus vgl. jetzt Stefan Maurer: Wolfgang Kraus und
der österreichische Literaturbetrieb nach 1945. Wien u. a.: Böhlau 2020.
157 Norbert Beilharz: Die Feuer- und die Wasserprobe. GesprÀch mit Thomas Bernhard, Saar-
lÀndischer Rundfunk 1978. In: https://www.youtube.com/watch?v=0ktFW5KOFjM (Stand
14. 10. 2020), 12:00 â 12:15.
Unfreundliche Betrachtungen: EinwÀnde gegen die
Literaturkritik102
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471