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Am Ende wiederholt Bernhard den bereits zuvor lancierten Vorwurf an die Kri-
tiker, durch die fortwĂ€hrende Diagnose einer âDĂŒrreâ des Theaters im Grunde
nur ihre eigene Legitimation als Kritisierende festigen und bestÀtigen zu wollen,
und fordert die Leser seiner Polemik dazu auf, ihnen nicht allzu viel Gehör zu
schenken: âDie Bauern und die sogenannten Landwirte und die Theaterkritiker
und die sogenannten Kritiker ziehen (siehe Kerr und Musil!) am gleichen Strang:
an der DĂŒrre. Und wenn sie nicht gestorben sind, ziehen sie noch daran. LaĂt
sie ziehen!â (TBW 22.1, 614)196
Nicht nur diese letzte sprachspielerische Volte, die an die Schlusspointen eines
Karl Kraus erinnert,197 zeigt, dass Bernhards DiskussionsbeitragÂ
â wie auch andere
polemische Texte des AutorsÂ
â der formalen PoetizitĂ€t gegenĂŒber der Stringenz
der Argumentation den Vorrang einrĂ€umt. Die âWörter und ihre Zusammenset-
zung, ihre Bedeutung, ihre Ă€uĂere und innere Formâ sind, mit Roman Jakobson
gesprochen, ânicht nur indifferenter Hinweis auf die Wirklichkeitâ, sondern sie
haben âeigenes Gewicht und selbstĂ€ndigen Wertâ.198 Als âWortkunstwerk[e]â 199
sind Bernhards Polemiken stets âĂŒberstrukturiertâ, gehen weit darĂŒber hinaus,
MissstĂ€nde zu benennen und Gegner zu denunzieren. Sie sindÂ
â auch und gerade
dort, wo ihre konkrete StoĂrichtung oder ihre argumentative Substanz diffus
bleibt â Texte von eigenem Ă€sthetischem Wert, als polemische BeitrĂ€ge immer
auch poetische Artefakte, wobei sich die beiden Aspekte nicht trennscharf von-
einander scheiden lassen.
196 1984 hat Bernhard in einem GesprĂ€ch mit Krista Fleischmann das Bild von der âDĂŒrreâ des
Theaters affirmativ aufgegriffen, wenn er âWĂŒste und DĂŒrre auf dem Burgtheaterâ beklagt: âDas
Burgtheater ist ja wie so eine Sahelzone, wo alles dĂŒrr ist, ausgetrocknet, kaputt, und da gehen
diese zwei [KĂ€the Gold und Paula Wessely] immer noch frei herum auf dieser toten WĂŒste.â
(TBW 22.2, 266) Im Laufe des GesprÀchs erweitert Bernhards das Bild auf komödiantische Weise:
âMan geht hinein, man fahrt dort hin, man bucht quasi eine Safari im Burgtheater und geht hin,
und es sind keine Tiere da, es wachst nichts, es brĂŒllt nichts, keine Giftschlangen, gar nichts,
völlig leer. Da geht man wieder heraus und sagt, na ja also wennâs nur WĂŒste ist, brauchâ ich ja
nicht hingehen. Es ist wĂŒst und leer. Nur so manchmal hört man so alte Schreie von Schakalen,
aber auftreten tun keine mehr dort.â (TBW 22.2, 267) SchlieĂlich greift Bernhards WĂŒsten-
Verdikt auch auf die Salzburger Festspiele ĂŒber, wobei er die Entwicklung des Theater betriebs
mit den VerĂ€nderungen von Vegetationszonen kurzschlieĂt: âNa ja, Salzburg ist genauso eine
WĂŒste. Es gibt ja in der Welt auch mehrere WĂŒsten, also gibtâs halt in Wien eine, und Salzburg,
das wird auch immer mehr zur WĂŒste. Steppe ist es ja schon jahrzehntelang, und jetzt wirdâs
wahrscheinlich von der Steppe zur WĂŒste umkippen.â (TBW 22.2, 267)
197 Vgl. exemplarisch Krausâ Glosse, die im Rahmen seiner publizistischen Auseinandersetzung mit
der Wiener Kriegsausstellung 1916 entstanden ist: Karl Kraus: Es zieht! In: Die Fackel (2. 8. 1916),
H. 431 â 436, S. 109.
198 Roman Jakobson: Was ist Poesie. [1934] In: R. J.: Poetik. AusgewĂ€hlte AufsĂ€tze 1921 â 1971. Hg. v.
Elmar Holenstein u. Tarcisius Schelbert. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979, S. 67 â 82, hier S. 79.
199 Ebd.
Unfreundliche Betrachtungen: EinwÀnde gegen die
Literaturkritik116
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471