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Handkes zunÀchst in der ZEIT gedruckte Rede setzt nach der Exposition
sogleich im Brustton der Verdammung ein, um anschlieĂend die AusfĂŒhrungen
zum Zustand von Literaturbetrieb und Literaturkritik ausdrĂŒcklich als âTatversuchâ
anzukĂŒndigen. Sein âHang zu scharfer Polemikâ,292 den der Handke-Biograph Malte
Herwig hervorgehoben hat, tritt hier in besonders prÀgnanter Weise hervor, weshalb
der Text der Rede ausfĂŒhrlicher gemustert werden soll. Er sehe dort, so Handke,
wo einmal vielleicht Leidenschaft, Liebe, ErschĂŒtterung, Ernst, Zorn und heite-
rer, genauer Streit spielten, ein finsteres, jÀmmerliches, schamloses, beschÀmendes
Geschiebe, GedrÀnge und Gerempel von Machthaberei, Schlagworten in jedem Sinn,
BegrifferĂŒcken, Spiegelfechterei, SpitzfindigkeitÂ
â mit einem Wort: den so totalen wie
totalitÀren Vordergrund, welcher nicht einmal beklagenswert ist, bloà zu verachten.
Die Verachtung freilich strÀubt sich gegen den Ausdruck, drÀngt zum Verschweigen
und will doch nicht tatenlos bleiben: das ist ihr und das ist mein Problem. So sind
die nun folgenden Worte ein Tatversuch.293
Sind die konkreten Adressaten seiner Polemik eingangs nur vage zu erkennen,
bleiben also die Objekte der âVerachtungâ vergleichsweise schwach konturiert,
greift der Redner kurz darauf â[e]ine der GewohnheitenÂ
[âŠ] des heutigen Feuille-
tonsâ als Beispiel heraus.294 Es sei dort Usus, âdie unterdrĂŒckten, verfolgten, zum
Schweigen gezwungenen KĂŒnstler in den totalitĂ€ren Staaten jenen in den soge-
nannten freien LĂ€ndern gegenĂŒberzustellenâ. Dieses âAusspielenâ, das Mitte der
1980er Jahre zuallererst auf die Frontstellung der beiden dominierenden poli-
tischen Machtsysteme in Ost- und Westeuropa zu beziehen ist, beruhe jedoch,
so Handke weiter, auf einer falschen Annahme, nÀmlich auf der PrÀmisse eines
strengen Antagonismus zwischen âfreienâ und âunfreienâ Staaten:
In der sogenannt freien Welt geht es, jedenfalls was die Literatur betrifft, auch tota-
litÀr zu, wenngleich auf eine andere Weise als in der augenfÀlligen Kerkerwelt. Die
Verfolgung, die UnterdrĂŒckung, die Korrumpierung, das Mundtotmachen, das Tot-
machen von Schriftstellern geschieht hier â ich kann nicht sagen: âbei unsâ â nur
heuchlerischer, heimtĂŒckischer, gauklerischer und, wenn sich das Wort steigern
lieĂe: faustrechthafter.295
Norbert Christian Wolf: Der âMeister des sachlichen Sagensâ und sein SchĂŒler. Zu Handkes
Auseinandersetzung mit Goethe in der FilmerzÀhlung Falsche Bewegung. In: Poesie der RÀnder
(Anm. 46), S. 181 â 199.
292 Herwig: Meister der DÀmmerung (Anm. 65), S. 114.
293 Handke: Einwenden und Hochhalten (Anm. 287), S. 125.
294 Ebd., S. 126.
295 Ebd.
Unfreundliche Betrachtungen: EinwÀnde gegen die
Literaturkritik134
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471