Seite - 136 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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War Thomas Bernhard im November 1978 eine âBĂŒcherverbrennungâ angesichts
der Angriffe auf seine Person (im Rahmen einer abgebrochenen Lesung an der
UniversitĂ€t MĂŒnchen) als âein geradezu symbolischer Aktâ erschienen,299 bedient
sich Handke im Folgenden eines Àhnlich absurden Vergleichs, um das destruk-
tive Moment der Literaturkritik durch eine historische Analogie zu erhellen:
âHört auf, von der BĂŒcherverbrennung der Nationalsozialisten zu redenÂ
â ihr tut
das gleiche immer noch, auf eure Weise, unauffÀlliger, aber genauso vorsÀtzlich,
und kommt dazu straflos davon.â 300 Obschon diese Ebene des Vergleichs in der
Folge beiseitegelassen wirdÂ
â nur der Vorwurf des âTotalitarismusâ taucht erneut
aufÂ
â, bleibt der Ton der Rede doch aggressiv, wobei Handke auch vor harschen
Invektiven nicht zurĂŒckschreckt:
Der sogenannte âRaumâ, den jene Zeitung âfĂŒr Deutschlandâ angeblich den BĂŒchern
gibt, ist das Gegenteil von einem Raum: Er ist ein stickiges, luftloses HenkerstĂŒbchen,
vollgepfercht mit bieder-wahnsinnigen Unholden und ihren ehrsĂŒchtigen, selbst-
vergessenen Mietlingen. Kritiker zu sein könnte ein guter, lehrreicher, VergnĂŒgen
bescherender Beruf sein; eine genaue, erzĂ€hlende, aufschlĂŒsselnde und wiederum
verschlĂŒsselnde Besprechung eines Buches, ob mit Liebe oder mit Zorn verfaĂt, zu
lesen, hat mir schon oft Freude gemacht, oft das Hirn zum GlĂŒhen gebracht, ja mich
sogar gerĂŒhrt und begeistert. Aber es gibt schon lange kaum Kritiker mehrÂ
â nur noch
gutbezahlte Angestellte, die sich aufspielen, und immer fĂŒr sich selber, und immer
gegen jemand andern; und die hellen Streitspiele sind zum bloĂen Gegeneinander-
Ausspielen verkĂŒmmert.301
In der Denunziation des Status quo scheintÂ
â wie so oft in Handkes PolemikenÂ
â
als Gegenbild das Ideal eines âgenaue[n], erzĂ€hlende[n]â Rezensierens durch,
das den Beruf des Kritikers zu einem positiven, ja lustvollen TĂ€tigwerden im
Namen der Literatur werden lieĂe. Anstatt die emotionale Affektion beim Lesen
(âLiebeâ, âZornâ, âFreudeâ etc.), anstatt das âErlebnis der LektĂŒreâ zu beschreiben,
seien die prominenten Kritiker im Feuilleton der FAZ mit der Demonstration
von Deutungsmacht und literaturbetrieblicher RankĂŒne beschĂ€ftigt. Drei Jahre
299 Bernhard an Unseld, 29. 11. 1978. In: Bernhard/Unseld: Der Briefwechsel (Anm. 11), S. 550:
âIch glaube, der Schritt von der gewalttĂ€tigen Behinderung einer (in diesem Falle meiner) mit
dem umgekehrten Gastrecht geohrfeigten Person â und die UnterdrĂŒckung war ja mehr oder
weniger eine brutal-physische, wie Sie gesehen habenÂ
â bis zur Vernichtung dieser Person (und
ihrer Arbeit), ist kurz. Dagegen wĂ€re die BĂŒcherverbrennung ein geradezu symbolischer Akt.â
Franz Xaver Kroetz und seine âLeuteâ, die er fĂŒr die Störung der MĂŒnchner Lesung verantwort-
lich machte, erinnerten Bernhard âan die MĂŒnchner Nazisâ. Vgl. dazu den Kommentar ebd.,
S. 547 â 551.
300 Handke: Einwenden und Hochhalten (Anm. 287), S. 126 f.
301 Ebd., S. 127.
Unfreundliche Betrachtungen: EinwÀnde gegen die
Literaturkritik136
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471