Seite - 148 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
Bild der Seite - 148 -
Text der Seite - 148 -
Versucht Handke, seine EinwÀnde gegen den Kritiker durch die Berufung auf
Barthesâ einschlĂ€gige Beobachtungen zu plausibilisieren und zu stĂŒtzen, sind die
Arbeiten von Barthes und Reich-Ranicki fĂŒr Hans Christoph Buch Symptome
eines Àhnlichen Problems.26
Dass den Angriffen gegen Reich-Ranicki mitunter antisemitische Ressenti-
ments beigemischt waren, die den Holocaust-Ăberlebenden in besonderer Weise
trafen, gehörtÂ
â das darf an dieser Stelle nicht unterschlagen werdenÂ
â zur ideo-
logischen Signatur der Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, die
eminente Ungleichzeitigkeiten in der Reflexion und Aufarbeitung des national-
sozialistischen Erbes offenbarten.27 Handkes Attacke gegen Reich-Ranicki in der
Lehre der Sainte-Victoire (1980), die auf ein âGettoâ anspielt, in dem der Kritiker-
Hund âjedes Rassenmerkmal verlor[en]â habe, erweist sich vor diesem Hinter-
grund als hochgradig problematisch.28 Die Verwendung des Begriffs dokumentiert
darin besteht, zwei GegensÀtze aufzustellen, den einen mit Hilfe des anderen ins Gleichgewicht
zu bringen und sie dann beide zu verwerfenâ (Barthes); und erst recht sucht er stets Zuflucht
bei Tautologien, also bei jenem Verfahren, das darin besteht, dasselbe durch dasselbe zu defi-
nieren (ein Film ist ein Film, die BĂŒhne ist die BĂŒhne) und damit das Rationale, das einem
Widerstand leistet, zu unterdrĂŒcken.â Auf diese beiden rhetorischen Figuren, âTautologieâ
und âWeder-Noch-Kritikâ, hatte Handke: âBĂŒchereckeâ vom 11. 10. 1965 (Anm. 24), S. 243, in
seiner frĂŒhen Rundfunkrezension von Barthesâ Buch besonders hingewiesen. Zur Kontroverse
zwischen Hamm und Handke vgl. Kap. II, Abschnitt âFronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffeâ.
26 Nach Otto Lorenz: Pro domoÂ
â Der Schriftsteller als Kritiker. Zu Peter Handkes AnfĂ€ngen. In:
Literaturkritik â Anspruch und Wirklichkeit. DFG-Symposion 1989. Hg. v. Wilfried Barner.
Stuttgart: Metzler 1990, S. 399 â 414, hier S. 407, geht Handke von einer âvon Wittgensteins
Sprachspiel-Konzept und Roland Barthesâ Mythen-Theorie instruierten GrundĂŒberzeugungâ
aus, wonach âLiteratur, die nicht unbedacht mit Sprachkonventionen umgeht, zum ideologie-
kritischen Werkzeug taugtâ; gerade dieses ideologiekritische Potential stellte Hans Christoph
Buch dem Semiotiker Barthes jedoch in Abrede.
27 Dazu Wittstock: Marcel Reich-Ranicki (Anm.Â
15), S.Â
251 â 253; Franz Schuh: All you need is love.
Notizen und Exzerpte zur (Literatur-)Kritik. In: F. S.: SchreibkrĂ€fte. Ăber Literatur, GlĂŒck und
UnglĂŒck. Köln: DuMont 2000, S. 24 â 114, hier S. 98 â 100.
28 Handke: Die Lehre der Sainte-Victoire (Anm.Â
10), S.Â
58.Â
â Zum Antisemitismus-Vorwurf gegen
Handke vgl. Christian Luckscheiter: Das Blau des Himmels ĂŒber dem HĂŽtel Terminus. Peter
Handke und der Nachkrieg. In: Peter Handke. Stationen, Orte, Positionen. Hg. v. Anna Kinder.
Berlin, Boston: de Gruyter 2014, S.Â
39 â 55, hier S.Â
39 f.; AndrĂ© MĂŒller: âEin Idiot im griechischen
Sinneâ. [GesprĂ€ch mit Peter Handke.] In: Die Weltwoche, Nr.Â
35, 30. 8. 2007, S.Â
52 â 57, hier S.Â
56 f.
Zur zitierten Stelle in der Lehre auch Wolf: Autonomie und/oder Aufmerksamkeit? (Anm. 4),
S.Â
56 f., Anm.Â
55.Â
â Irritierend wirkt Handkes Untergriff nicht zuletzt angesichts seiner eigenen
insistierenden Auseinandersetzung mit dem VerhÀltnis von TÀterschaft und Opfer gerade in
der Langsame-Heimkehr-Tetralogie. Vgl. z. B. Peter Handke: Langsame Heimkehr. ErzÀhlung.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979, S. 99: âEr [âŠ] war vielleicht schwach, aber ein Nachkomme
von TÀtern, und sah sich selber als TÀter; und die Völkermörder eines Jahrhunderts als Ahn-
herren.â â Oder, in den Notizen der spĂ€ten 1980er Jahre: âBedenk immer wieder, daĂ dein
Geschichtserlebnis das des Völkermordes an den Juden istâ (Peter Handke: Gestern unterwegs.
âMein Feind in Deutschlandâ: Peter Handke vs. Marcel
Reich-Ranicki148
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471