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Reich-Ranickis fast durchwegs negative Rezensionen zu Handkes BĂŒchernÂ
â eine
Ausnahme bildete sein wohlwollender Kommentar zum Versuch ĂŒber den geglĂŒckten
Tag (1991) im Literarischen Quartett, und auch die Tormann-ErzÀhlung (1970) und
den Kurzen Brief zum langen Abschied (1972) scheint er einigermaĂen geschĂ€tzt zu
haben 56Â
â waren zwar von persönlicher Antipathie geprĂ€gt, die durch die Wider
reden
des Autors noch zusÀtzlich Nahrung erhielt. Sie können aber, wie mir scheint, kaum
auf die polemische âUrszeneâ des Jahres 1968 reduziert werden, zumal der Kritiker
diese recht abgeklÀrt zu entschÀrfen verstanden hatte. Obschon auf einem persön-
lichen Konflikt fuĂend, der mit der ersten Konfrontation in Princeton 1966 seinen
Ausgang nahm, sind Reich-Ranickis Verrisse von Handkes Texten doch einem
bestimmten, gleichwohl zu dieser Zeit Ă€sthetisch ĂŒberholten Konzept von Litera-
tur verpflichtet, das ihm auch in anderen FĂ€llen â und zum Missfallen zahlreicher
Autorinnen und AutorenÂ
â als MaĂstab seiner Kritiken diente.57 Franz Josef Czernin
hat dies, selbst ohne besondere Sympathie fĂŒr Handkes âGegenpolemikâ,58 Mitte der
1990er Jahre mit wenig schmeichelhaftem Unterton pointiert zusammengefasst:
Reich-Ranickis Kritiken sind viel systematischer, als er ahnt und wissen will; seine
Form literaturkritischer Vernunft hat so viel Methode wie nur irgendein Wahn. DaĂ er
selbst das Systematische hĂ€ufig als fĂŒr den Kritiker schĂ€dliche Befangenheit bezeich-
net, verschlÀgt dabei nichts. Das ist nur die bezeichnende Geste des antitheoretischen
Pragmatikers, der seine Theorieblindheit damit bezahlt, daĂ er von bestimmten
Annahmen geleitet wird, ohne es wahrhaben zu wollen.59
56 In seiner Kritik von Wunschloses UnglĂŒck bezeichnete Reich-Ranicki 1972 Die Angst des Tor-
manns beim Elfmeter immerhin als âdurchaus beachtlich[Â ]â, den Kurzen Brief als zumindest
âstellenweise virtuos[ ]â (Marcel Reich-Ranicki: Die Angst des Peter Handke beim ErzĂ€hlen.
In: DIE ZEIT, Nr. 37, 15. 9. 1972).
57 Perram: Peter Handke (Anm. 36), S. 74, hat dies auf eine wohl zu einfache Formel gebracht:
âMarcel Reich-Ranickiâs critiques are conservative; his favourite target is the avant-garde.â
Ăberzeugender scheint hingegen seine kurz darauf formulierte EinschĂ€tzung des Kritikers:
âHandke does fail to point out that Reich-Ranicki is in many ways an astute critic. Much of
what he has to say about literature demonstrates his ability to accurately perceive the nature
and complexity of a work. However, this obvious ability tends to dangerously obscure the fact
that he has subordinated his perception to a rigid, and in many ways, outmoded system of cri-
ticism and evaluation.â (Ebd., S. 79) â Vgl. dagegen Lorenz: Die Ăffentlichkeit der Literatur
(Anm. 25), S. 19, der betont, Reich-Ranicki habe als Literaturkritiker âentschieden subjektivâ
geurteilt, âdabei aber keinen festen literarĂ€sthetischen Standpunktâ eingenommen; ebenso
argumentieren Volker Hage/Mathias Schreiber: Marcel Reich-Ranicki. Köln: Kiepenheuer &
Witsch 1995, S. 115: âEin geschlossenes System, eine umfassende Theorie wird man bei ihm
nicht finden. Damit möchte er auch gar nicht dienen.â
58 Czernin: Marcel Reich-Ranicki (Anm.Â
39), S.Â
53. Handke biete als Gegenentwurf zu den âKlischees
Reich-Ranickis vor allem eine Reihe von Antithesenâ auf, âdie insofern selbst klischeehaft sind, als
sie als unvermittelte Behauptungen jenen Reich-Ranickis einfach entgegengesetzt werdenâ (ebd.).
59 Ebd., S. 18. Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 155
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471