Seite - 177 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Kritiker auf die in Wunschloses Unglück (1972) geschilderte Herkunft des Autors
aus einfachen Verhältnissen an. Wenn Reich-Ranicki ausgerechnet Handke als
potentiellen Verfasser des Vorworts nennt, ist das zudem als eine Spitze gegen
dessen Affinität zu einer Literatur des ländlichen Raums zu verstehen
– Handke
hatte Mitte der 1970er Jahre Erzählungen des österreichischen Autors Franz Nabl
im Residenz Verlag herausgegeben, Reich-Ranicki den Abdruck von Handkes Vor-
wort in der FAZ, wie bereits zitiert, mit Blick auf die mangelnde Bekanntheit Nabls
in Deutschland abgelehnt. Handke galt dem Kritiker wohl seitdem als Statthalter
von Autoren wie Rosegger oder Nabl im zeitgenössischen literarischen Feld.155
Die Lehre der Sainte-Victoire tauchte 1980 im offiziellen Suhrkamp-Herbst-
programm nicht auf. Überdies hatte der Verlag auf Wunsch Handkes keine
Rezensionsexemplare des Buches versendet.156 Wie schon bei Langsame Heim-
kehr war dem Autor daran gelegen, sich den Abläufen und Konventionen des
Literaturbetriebs demonstrativ zu verweigern: „Er will viele Leser, aber keine
professionellen“,157 hatte Siegfried Unseld im April des Jahres in seinem Reise-
bericht festgehalten. Die Idee, die Lehre der Sainte-Victoire durch den Verzicht
auf Rezensionsexemplare der literaturkritischen Kommentierung zu entziehen
–
„Und ich bitte noch einmal, zu beachten, daß es keine Besprechungsexemplare
geben soll, für niemanden“ 158 –, ließ sich freilich nicht realisieren: Die „stille
Programmatik“ 159 des Buches stieß im Feuilleton auf geteiltes Echo; scharfzün-
gige Bemerkungen wie jene von W. Martin Lüdke, man werde „sich halt daran
gewöhnen müssen, Handke und seinen Heiligenschein künftig immer zusammen
zu sehen“,160 waren keine Seltenheit. Lüdke äußerte freilich auch die Vermutung,
155 In seiner Vorbemerkung zur Neuausgabe von Franz Michael Felders Autobiographie bezieht sich
Handke 1985 u. a. auf den „Waldbauernbub Peter Rosegger“ (Peter Handke: Zu Franz Michael
Felder. In: Franz Michael Felder: Aus meinem Leben. Mit einer Vorbemerkung v. Peter Handke
u. einem Nachwort v. Walter Methlagl. Salzburg, Wien: Residenz 1985, S. 5 – 6, hier S. 5).
156 Vgl. N. N.: Geheim-Werk von Peter Handke. In: Der Spiegel, Nr.
37, 8. 9. 1980, S.
184. Der Vor-
wurf, den Manfred Durzak: Peter Handke und die deutsche Gegenwartsliteratur. Narziß auf
Abwegen. Stuttgart u. a.: Kohlhammer 1982, S.
13, darauf aufbauend konstruiert hat, ist durch-
aus perfide, weil er die Verweigerung Handkes gerade als größtmögliche Affirmation deutet:
„Die Tatsache, daß Handke seinem Verlag untersagte, Rezensionsexemplare seines Buches ‚Die
Lehre der Sainte-Victoire‘ zu verschicken, daß er sich jegliche Werbung für die ‚Linkshändige
Frau‘ verbat, sind ja nur indirekte Bestätigungen der übergroßen Bedeutung, die der Literatur-
betrieb für ihn hat. Und prompt haben sich diese Restriktionen ja auch eher verkaufsfördernd
als -hemmend ausgewirkt.“
157 Unseld: Reisebericht, 5./6.
April 1980. In: Handke/Unseld: Der Briefwechsel (Anm.
60), S.
399.
158 Handke an Unseld, 5. 8. 1980. In: ebd., S. 416.
159 Uwe Schultz: Die Suche nach dem reinen Augenblick. Peter Handke: Die Lehre der Sainte-
Victoire. In: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 11. 10. 1980.
160 W. Martin Lüdke: Der heilige Handke? Peter Handkes erzählende Poetik Die Lehre der Sainte-
Victoire. In: Frankfurter Rundschau, 25. 10. 1980.
Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 177
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471