Seite - 191 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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[I]ch merkte, wie dann […] eine Stauwand in ihm brach. Und dann kam es auch
heraus: Er ‚haßte‘ unsere, und er meinte damit meine, ‚verbrüdernde, zersetzende,
krebserregende‘ Umarmung mit den Medienpäpsten. Es war ja klar, wer gemeint
war, obschon er den Namen nicht aussprechen kann. […] Vielleicht müßten wir sie
machen, aber er wolle das nicht, und deswegen meinte er, ein Selbstverlag sei für ihn
doch das beste. Und als Höhepunkt seiner Anklage kam der Vorwurf, daß ich mich
an der besagten Festschrift beteiligt hätte. Ich verneinte dies, aber er glaubte es nicht.
Er wisse ganz genau, daß ich beteiligt sei. Ich sagte ihm, das Buch käme ja im nächs-
ten Monat heraus und er würde sehen: kein Beitrag von mir.234
Bei jener „Festschrift“ handelt es sich um den Band Literatur und Kritik, den
Walter Jens 1980 anlässlich von Reich-Ranickis 60. Geburtstag herausgab. Er
enthielt, trotz Handkes gegenteiliger Vermutung, zwar zahlreiche Artikel lite-
rarischer Kolleginnen und Kollegen, von Martin Walser über Siegfried Lenz bis
Sarah Kirsch, aber keinen Beitrag des Verlegers.235
Die sich anbahnende Krise war damit aber keineswegs abgewendet, zumal
Handkes Misstrauen gegenüber der Loyalität seines Verlegers auf einer fatalen
Entdeckung beruhte: „Ich betrat das Haus des Verlegers, und der Stuhl, auf dem
ich saß, war in meinem Wahn oder Nichtwahn noch heiß von dem Kritiker, der
fünf Minuten vorher da war, auf Vernichten aus“, hat Handke sich noch 2004
im Zuge einer Rede in memoriam Siegfried Unseld erinnert.236 1979, im Jahr
der Publikation von Langsame Heimkehr, war Handke in Unselds Büro auf ein
Widmungsexemplar des Reich-Ranicki-Bandes Entgegnung gestoßen, in dem
der Kritiker die vernichtenden Besprechungen von Wunschloses Unglück und
Die linkshändige Frau erneut abgedruckt hatte.237 Handke deutete den Umstand,
dass Unseld und Reich-Ranicki miteinander in freundlichem Einvernehmen
234 Unseld: Reisebericht Salzburg, 5./6. April 1980. In: ebd., S. 400.
235 Vgl. Literatur und Kritik. Aus Anlaß des 60. Geburtstages von Marcel Reich-Ranicki hg. v.
Walter Jens. Stuttgart: DVA 1980. Dazu weiter Unseld: Reisebericht Salzburg, 5./6.
April 1980.
In: Handke/Unseld: Der Briefwechsel (Anm.
60), S.
400: „Er glaubte es nicht. Es dauerte wie-
der eine halbe Stunde, bis er sich ausgeredet hatte, ich konnte ihn gewiß mit meinem Einreden
nicht überzeugen, aber vielleicht hatte er etwas mehr Verständnis für meine Haltung.“
236 Peter Handke: Vom Singular und vom Plural. Rede zur Verleihung des Siegfried-Unseld- Preises
am 28. September 2004 im Holzhausenpark. In: P. H.: Meine Ortstafeln. Meine Zeittafeln
(Anm. 46), S. 425 – 430, hier S. 427.
237 Vgl. Marcel Reich-Ranicki: Entgegnung. Zur deutschen Literatur der siebziger Jahre. Stutt-
gart: DVA 1979, S. 315 – 322 (Die Angst des Dichters beim Erzählen) u. 322 – 329 (Wer ist hier
infantil?). In die Neuauflage des Bandes von 1981 wurde unter dem Titel Sein Weg zu Gott
zusätzlich die Besprechung von Langsame Heimkehr aufgenommen. Vgl. ders.: Entgegnung.
Zur deutschen Literatur der siebziger Jahre. Erweiterte Neuausgabe. Stuttgart: DVA 1981,
S. 403 – 411. Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 191
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471