Seite - 197 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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StĂŒcke gegen Ende schwĂ€cherâ geworden seien,263 habe er sich, zumal mit Blick
auf die Prosa, mehr und mehr zu einem âBernhard-Enthusiast[en]â entwickelt, so
der Kritiker im bereits zitierten GesprĂ€ch mit Peter von Matt: âManche leiden an
der Prosa Thomas Bernhards, ich gehöre zu jenen, die sie geradezu genieĂen.â 264
Und er gesteht dem Autor im weiteren Verlauf des Interviews ausdrĂŒcklich eine
Sonderstellung im literarischen Feld zu: âDas Manische bei Bernhard, das Insis-
tierende, das sich in Sprache umsetzt, das in seinem Tonfall, in seinem Satzbau
spĂŒrbar wird, sein bitterer, grimmiger Humor, sein KatastrophismusÂ
â das alles ist
einzigartig.â 265 Im Herbst 1982 druckte Reich-Ranicki Wittgensteins Neffe in Fortset-
zungen im Feuilleton der FAZ, was den Leserkreis der autobiographischen ErzÀh-
lung deutlich erweiterte; 2002 nahm er neben Werken von Fontane, Goethe, Kafka
und Joseph Roth schlieĂlich auch Bernhards HolzfĂ€llen in den Kanon der zwanzig
seines Erachtens wichtigsten Romane der deutschen Literaturgeschichte auf.266
Bernhard und Reich-Ranicki waren sich am 17. November 1968 anlÀsslich
der bereits erwÀhnten skandaltrÀchtigen Veranstaltung in der Berliner Aka-
demie der KĂŒnste begegnet, bei der Rolf Dieter Brinkmann dem Kritiker vor
versammeltem Publikum mit der Anwendung von Waffengewalt gedroht hat-
te.267 Nicht nur Brinkmann, sondern auch Bernhard scheint ĂŒber die Mitwir-
kung Reich-Ranickis an dem GesprĂ€chs- und Leseformat âAutoren diskutieren
mit ihren Kritikernâ, dessen dritte Ausgabe an diesem Abend stattfand, nicht
erfreut gewesen zu sein; hatte dieser doch kurz zuvor Ungenach in der ZEIT nicht
eben freundlich besprochen und dem Autor im April 1967 attestiert, mit seinem
zweiten Roman Verstörung erzĂ€hlerisch âvöllig hilflosâ zu agieren, ja âin einem
Ozean von PlatitĂŒden und in einem wirren Geredeâ zu âertrinkenâ, âdas an die
Geduld des Lesers auĂerordentliche und unzumutbare Anforderungen stelltâ.268
263 Marcel Reich-Ranicki: Kritikers KummerÂ
â Kritikers Freud. Ein GesprĂ€ch mit Joachim Kaiser.
[1993] In: M. R.-R.: Kritik als Beruf (Anm. 17), S. 41 â 96, hier S. 66.
264 Reich-Ranicki: Der doppelte Boden (Anm. 45), S. 54 u. 63.
265 Ebd., S. 137.
266 Vgl. Manfred Mittermayer: Thomas Bernhard. Eine Biografie. Salzburg, Wien: Residenz 2015,
S.Â
357, bzw. den Kommentar in TBW 7, 261. HolzfĂ€llen findet sich, neben â28 anderen Autorin-
nen und Autoren des 20. Jahrhunderts aus dem deutschen Sprachraumâ, auĂerdem in Harold
Blooms 1995 veröffentlichtem Western Canon (vgl. ebd., 272).
267 Auf Brinkmanns, aber auch auf Handkes Attacken sind wohl die folgenden Passagen in Reich-
Ranickis Autobiographie Mein Leben gemĂŒnzt: âDie Schmerzen und die Leiden der von mir
abgelehnten Schriftsteller sind mir nicht unbekannt, und so muĂ ich VerstĂ€ndnis fĂŒr ihre
Racheakte und HaĂausbrĂŒche haben. Nur scheinen mir manche dieser AusbrĂŒche die Gren-
zen des Humanen nun doch ĂŒberschritten zu haben.â â âDoch will ich nicht verheimlichen,
daĂ mich die BrutalitĂ€t mancher gegen mich gerichteter ĂuĂerungen verblĂŒfft hat.â (Reich-
Ranicki: Mein Leben [Anm. 52], S. 445 u. 447)
268 Marcel Reich-Ranicki: Konfessionen eines Besessenen. In: DIE ZEIT, Nr. 17, 28. 4. 1967; die
Rezension findet sich auch in M. R.-R.: Literatur der kleinen Schritte (Anm. 47), S. 266 â 271,
Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 197
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471