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man ĂŒbertreiben mĂŒsse. Ein Dichter muĂ strukturieren, erkennen, gliedern und
ins Offene gehen.â 277 Dem Bernhardâschen Konzept des fortwĂ€hrenden Ăber-
treibens stellt Handke, in affirmativem Bezug auf die Poetik Friedrich Hölderlins
und dessen Fragment gebliebene Elegie Der Gang aufs Land. An Landauer, eine
ganz andere Vorstellung von Literatur gegenĂŒber.278
Wenngleich spÀt, entwickelte doch auch Bernhard seinerseits eine gewisse
Sympathie fĂŒr Reich-Ranicki. Am 18.Â
Januar 1986 gratulierte er dem Kritiker in
einer Postkarte aus Madeira zu einem tags zuvor in der FAZ erschienenen Auf-
satz ĂŒber Erika Mann: âDem HaĂenden muĂ erlaubt sein, ebenso stark zu lieben:
nach LektĂŒre von âTh. Manns treue Tochterâ beide, das Meisterwerk u. seinen
Meister. Vergebung voraussetzend, Thomas Bernhardâ.279 Zwar bleibt durch die
aphoristische KĂŒrze der Nachricht im Dunkeln, ob die Liebe des âHaĂendenâ, mit
dem vermutlich der Briefschreiber selbst gemeint ist, nun Thomas Mann oder
dem Adressaten gilt und wofĂŒr konkret er um âVergebungâ bittet; dass Bernhard
die freundlichen Zeilen aber gerade an jenem Tag verfasst, an dem er einen
seiner berĂŒchtigten SchmĂ€hbriefe an Siegfried Unseld schickt â âverlegerische
Katastropheâ, âproletarische[r], stumpfsinnige[r] MĂŒllâ, âStupiditĂ€tsrekordâ 280Â
â,
wirft ein bezeichnendes Licht auf Bernhards Sympathiemanagement, zumal die
beiden Postsendungen die Frankfurter Redaktion und den Frankfurter Verlag
wohl zur gleichen Zeit erreichten.
Gleichwohl beantwortete Bernhard im Jahr darauf im GesprÀch mit Asta
Scheib die Frage, ob er ein âHochgefĂŒhlâ verspĂŒre, âwenn Kritiker wie Reich-
Ranicki oder Benjamin Henrichs bewundernd ĂŒber Sie schreibenâ, abschlĂ€gig:
Bei Kritiken habe ich nie mehr ein HochgefĂŒhl. Am Anfang ja, weil man diese Dinge
alle glaubt. Wenn man aber dreiĂig Jahre lang dieses Auf und Ab erlebt, dieses Heim-
zahlen von Schuld, dann durchschaut man die Mechanismen. Da schickt einer seinen
Diener und sagt dem: âDa will ich eine negative Kritik.â So geht das. (TBW 22.2, 336)
277 Lothar Schmidt-MĂŒhlisch: Peter Handke: Ich denke wieder an ein ganz stummes StĂŒck. In: Die
Welt, 9. 10. 1987.
278 Zu den BezĂŒgen von Handkes Schreiben zu Hölderlins âKomm, ins Offene, Freundâ vgl. Albes:
ErzĂ€hlen â Argumentieren â Beschreiben (Anm. 189), S. 395, sowie ausfĂŒhrlich Hans Höller:
Eine ungewöhnliche Klassik nach 1945. Das Werk Peter Handkes. Berlin: Suhrkamp 2013.
279 Thomas Bernhard an Marcel Reich-Ranicki, 19. 1. 1986. In: Deutsches Literaturarchiv Mar-
bach, Handschriftensammlung, A: Reich-Ranicki, HS.2003.0002.00153. Bernhard bezieht sich
auf den folgenden Aufsatz des Kritikers: Marcel Reich-Ranicki: Thomas Manns treue Tochter.
In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. 1. 1986. FĂŒr die Genehmigung zum Abdruck danke ich
Peter Fabjan.
280 Bernhard an Unseld, 19. 1. 1986. In: Bernhard/Unseld: Der Briefwechsel (Anm. 151), S. 743. Es
handelt sich um Bernhards Polemik gegen die Herausgabe von Marianne Fritzâ Roman Dessen
Sprache du nicht verstehst.
âMein Feind in Deutschlandâ: Peter Handke vs. Marcel
Reich-Ranicki200
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471