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hinaus“, so Handke im Herbst 1988 zu André Müller.284 Kurz zuvor hatte er
– die
aggressive Schmähung des „übelsten Monstrums, das die deutsche Literaturbe-
triebsgeschichte je durchkrochen hat“,285 aus dem Februar 1981 aufgreifend
– eine
negative Rezension des Kritikers zur „Suada des gemeindummen Monsters von
Frankfurt“ erklärt, ohne das Monster beim Namen zu nennen;286 der Empfänger
des Briefes, Alfred Kolleritsch, wusste jedenfalls, wovon (nicht) die Rede war.
Reich-Ranicki setzte derweil auf kleinere Sticheleien, indem er Handke bei-
läufig in anderen Rezensionen auftreten ließ. In einem 1988 veröffentlichten
Artikel zur Entwicklung des Theaters in den Vereinigten Staaten etwa führt der
Kritiker seinen Kontrahenten in einer illustren Reihe alternder Dramatiker an:
[W]enn sie etwas älter werden, dann sind sie des unentwegten Trubels und ihres meist
etwas unseriösen Geschäfts überdrüssig. Sie verstummen (wie Shakespeare), sie wen-
den sich der Mystik zu (wie Gogol), sie schießen sich in den Kopf (wie Raimund), sie
werden fromm (wie Handke), sie gehen zum Fernsehen (wie Kroetz).287
Die Aufzählung, die Reich-Ranicki hier vornimmt, mutet schon auf den ers-
ten Blick recht kurios an, beging doch, um nur dieses eine Beispiel weiter zu
verfolgen, Ferdinand Raimund 1836 keineswegs aus Überdruss gegenüber dem
Theaterbetrieb Selbstmord, sondern aus Angst, nach dem Biss eines Hundes
an Tollwut erkrankt zu sein. Die Liste diente dem Kritiker aber jedenfalls
dazu, erneut seiner Überzeugung, Handke habe sich Ende der 1970er Jahre der
284 Müller: Im Gespräch mit Peter Handke (Anm.
112), S.
65. Vgl. auch Federmair: Die Apfelbäume
von Chaville (Anm. 218), S. 202: „Scheu wie er ist, hält sich der Autor zurück, vor allem bei
direkten Benennungen; den Namen Reich-Ranicki nimmt er nicht einmal im lockeren Gespräch
in den Mund, auch nicht Jahrzehnte nach den vorgefallenen Streitigkeiten.“
– Handkes Absicht,
den Namen Reich-Ranickis demonstrativ zu verschweigen, findet seine Entsprechung in Helmut
Heißenbüttels Nachruf bei Lebzeiten (1988) auf den namentlich ausdrücklich nicht genannten
Kritiker: „Ich habe versucht, seinen Namen auszusparen, wie ich ihn jetzt ausspare. Das ist bei
einem so allgegenwärtigen Schriftsteller nicht so einfach, aber auch wieder nicht so schwer, wie
es auf den ersten Blick erscheint.“ (Heißenbüttel: Nachruf bei Lebzeiten [Anm. 82], S. 27 f.) –
Als komplementäre Strategie kann Handkes Beharren auf der Nennung vergessener, aus dem
Fokus medialer Aufmerksamkeit gerückter Personen gelten, etwa in einer kurzen Erzählung
aus dem Umfeld der Jugoslawien-Texte: „[I]mmer wieder sei dieser Name erwähnt, damit
er sich einpräge über die Aktualitäten hinaus“ (Peter Handke: Die Geschichte des Dragoljub
Milanović. Salzburg, Wien: Jung und Jung 2011, S. 13).
285 Handke an Unseld, 25. 2. 1981. In: Handke/Unseld: Der Briefwechsel (Anm. 60), S. 431.
286 Handke an Kolleritsch, 15. 1. 1987. In: Handke/Kolleritsch: Schönheit ist die erste Bürgerpflicht
(Anm. 12), S. 161.
287 Marcel Reich-Ranicki: Ein amerikanisches Welttheater. [1988] In: M. R.-R.: Über Amerikaner.
Von Hemingway und Bellow bis Updike und Philip Roth. München: DVA 2004, S. 137 – 152,
hier S. 137.
„Mein Feind in Deutschland“: Peter Handke vs. Marcel
Reich-Ranicki202
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471