Seite - 203 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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‚religiösen‘ Literatur verschrieben und sei entsprechend „fromm“ geworden,
Ausdruck zu verleihen.
Als Handke sich im Januar 1990 von Aix-en-Provence aus erneut zur Montagne
Sainte-Victoire aufmacht und dieser Wanderung wenig später eine Epopöe vom
Verschwinden der Wege widmet, ist das Gebiet kaum wiederzuerkennen: Ein
verheerender Waldbrand hat die Charakteristik der Bergkette tiefgreifend ver-
ändert, hat „alles verbrannt, was nur brennbar war, von den Vorbergen über die
Zwischenplateaus bis zu den letzten, vereinzelten Krüppelbüschen ganz oben
in den Ritzen der sonst unbewachsenen Felswände“.288 Angesichts der „bis auf
Stumpf und Stiel ruinierten Natur“ 289 wird die verwüstete Landschaft dem Autor
zum Bild für sein eigenes Dasein, für das Verschwinden des Bekannten, für die
Nicht-Wiederholbarkeit der vertrauten Wege – mithin zu einer poetologischen
Allegorie. Von einer aggressiven Bestie ist in dieser Anderen Lehre der Sainte-
Victoire – so der Nebentitel der Epopöe – keine Spur mehr zu finden; sie wird
jedoch anderswo in Handkes Werk wieder auftauchen.
Im Literarischen Quartett nahm Reich-Ranicki einstweilen weiterhin Neu-
erscheinungen Handkes ins Visier: Nachdem er den Versuch über die Jukebox
(1990) als „ganz schwache Literatur“ abgekanzelt hatte,290 fiel sein Kommentar
zum Versuch über den geglückten Tag ein Jahr darauf überraschend positiv und
freundlich aus:
Ich muss sagen, es hat mich viel tiefer beeindruckt als die beiden vorangegangenen
Versuche von Handke. Was an dem Buch für mich so beeindruckend, so wichtig
ist, […] ist die Übereinstimmung von Gedanklichem und von der Darstellung sinn-
licher Eindrücke, der Sprache und des Gedankens. Es ist selten ein Buch da, von dem
man sagen kann: Hier ist Form und Inhalt dasselbe. Die Form ist hier der Inhalt, der
Inhalt ist hier die Form. Die Sprache und der Gedanke kommen ganz aneinander,
und das ist sprachlich von einer Virtuosität, wie es Handke, glaube ich, schon lange
nicht war, sehr lange nicht war.291
Wüsste man es im Rückblick nicht besser, wäre man versucht, das Lob des Kriti-
kers im Literarischen Quartett als Zeichen einer allmählichen Entspannung der
Fehde zu interpretieren.
288 Peter Handke: Epopöe vom Verschwinden der Wege oder Eine andere Lehre der Sainte-Victoire.
In: P. H.: Noch einmal für Thukydides. Salzburg, Wien: Residenz 1990, S. 34 – 38, hier S. 35.
289 Ebd., S. 36.
290 Marcel Reich-Ranicki. In: Das Literarische Quartett. Bd. 1 (Anm. 249), S. 290. Diese Sendung
des Literarischen Quartetts ist nicht als Videomitschnitt im Internet verfügbar.
291 Marcel Reich-Ranicki: Peter Handke, Versuch über den geglückten Tag im Literarischen Quar-
tett [ZDF], Sendung Nr. 16, 16. 10. 1991. In: https://www.youtube.com/watch?v=OsbUjhIA0jg
(Stand 14. 10. 2020), 01:09:20 – 01:10:16; vgl. Das Literarische Quartett. Bd.
1 (Anm.
249), S.
428.
Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 203
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471