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erneut betont, „viel bedeutender als der ganze Handke“.329 Reich-Ranicki und
Karasek isolierten in ihren Wortmeldungen ganz bewusst Textstellen aus dem
narrativen Kontext des Buches, um Handkes Sprachgestus zu desavouieren und
der Lächerlichkeit preiszugeben.
Handkes ausführlichster Selbstkommentar zum abermaligen Auftritt des
Kritikers in einem Erzähltext findet sich wenige Tage später, kurz vor Weih-
nachten 1994, in einem Interview des Autors mit dem Magazin stern. Angespro-
chen darauf, dass Reich-Ranicki mittlerweile zu einer populären Figur auch der
fiktionalen Literatur geworden sei, antwortete Handke: „Bei mir ist er keine
Figur, eher eine flüchtige Glossen-Gestalt, so, wie in meinem Manuskript die
Tierfiguren an den Rand gezeichnet sind. Ich wollte ein paar Schlenker in der
Geschichte haben, damit sie nicht so streng und ausschließlich abläuft.“ 330 Tat-
sächlich hatte Handke, folgt man der Auskunft seines Lektors Raimund Fellinger,
beim Schreiben Miniaturen von Tieren, u. a. von Bisamratten, an den Rand des
Niemandsbucht-Manuskripts gesetzt.331 Reich-Ranickis kolportierte Aussage,
er ärgere sich weniger darüber, in Handkes Buch vorzukommen, als über den
Umstand, dass die ihn betreffenden Passagen „besonders schlecht geschrieben“
seien,332 entgegnete dieser wenig konziliant und mit erneutem Rückgriff auf
die etablierte MRR-Topik, wobei das animalische Tableau in diesem Fall um
Primaten ergänzt wird:
Es ist ja nicht so, wie er das in seiner Affen-Psychologie darstellt. Ich finde es sehr
fein und elegant geschrieben, wie er vorkommt. Da kann er drauf stolz sein, daß er
so verewigt ist. Er hat einen Riecher für alles, aber da die große Literatur fast keinen
Duft hat, hat er keine Witterung für große Literatur. Er lebt nur für diese Fernseh-
Wortspektakel für Leute, die gar nicht lesen, sondern Worte nur zum Angaffen finden.
Er verwechselt in seiner Literaturkritik-Tätigkeit seine Plattheit mit Klarheit. Und da
er ein ungeheures Maulwerk hat, finden zu meinem immerwährenden Erstaunen die
Leute daran ihre Belustigung.333
angegriffene Marcel Reich-Ranicki z. B. wütet im Literarischen Quartett gegen die angeblichen
Verehrer, würdigt aber das Buch selber keines Wortes.“
329 Reich-Ranicki: Handke, Mein Jahr in der Niemandsbucht (Anm. 327), 43:10 – 43:13; vgl. Das
Literarische Quartett. Bd. 2 (Anm. 249), S. 255.
330 Michaelsen/Handke: „Ab und zu sticht mich ein Teufelchen“ (Anm. 30), S. 126.
331 Vgl. Fellinger: „Schreiben: Sich zur Ruhe setzen“ (Anm. 304), S. 139.
332 Zit. nach: Hage/Schreiber: Marcel Reich-Ranicki (Anm. 57), S. 99: „Reich-Ranicki reagierte
zunächst souverän und sagte kurz nach Erscheinen der ‚Niemandsbucht‘ in einem Interview:
‚Handkes Seitenhiebe schmerzen mich überhaupt nicht, aber
– das will ich nicht verheimlichen
–,
es ärgert mich doch, daß in seinem Buch die gegen mich gerichteten Passagen besonders schlecht
geschrieben sind.‘“
333 Michaelsen/Handke: „Ab und zu sticht mich ein Teufelchen“ (Anm. 30), S. 126.
Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 211
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471