Seite - 225 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
Bild der Seite - 225 -
Text der Seite - 225 -
geben […], das Sehen und nicht nur Wiedererkennen ist“,23 liegt auch der Poe-
tik und dem literaturkritischen Anforderungskatalog des jungen Peter Handke
zugrunde.24 Bereits der „Bücherecke“-Feuilletonist führt, wenn er Eichenbaums
Darstellung referiert, „die Beschreibung des Regens“ als Beispiel an; sie könne
in einer modernen Literatur „nicht mehr als Vorspiel zu der Beschreibung eines
Liebesszene“ dienen.25 Die Verbindungen zwischen den von Handke rezipierten
literaturtheoretischen Entwürfen des Formalismus und der eigenen Rezensions-
praxis sind kaum zu übersehen
– geht die Besprechung von Wellershoffs Wochen-
ende-Band doch von der Kritik am „Wettergesetz der Literatur“ aus, dem zufolge
es, so Handkes pointierte Beobachtung, „bei einem Begräbnis in der Regel reg-
net“.26 Friedrich Christian Delius, ein Jahr jünger als Handke und wie dieser einer
der vielversprechenden jungen Autoren im literarischen Feld Deutschlands, sollte
wenige Jahre später in seiner Berliner Dissertation das Wetter als „Kunstmittel“
im Roman des bürgerlichen Realismus untersuchen. Der Untertitel von Delius’
Studie, der neben dem „Kunstmittel“ auch seinen „ideologische[n] Gebrauch“
in den Blick zu nehmen verspricht, deutet jedoch bereits an, dass das Erkennt-
nisinteresse bei den beiden Schriftstellern sich nicht unbedingt deckte: Dem in
der linken Studentenbewegung verwurzelten Delius war es auch um politische,
nicht bloß um sprachästhetische Lesarten literarischer Texte zu tun.27
Die skizzierten Prinzipien von Handkes Rezensionspraxis gelten dann in
ähnlicher Weise auch für das eigene literarische Schreiben: Das formalistische
Diktum, ein ästhetisch wertvoller Text zeichne sich durch eine „Komplizierung
der Form“ und eine damit einhergehende „Verfremdung“ der beschriebenen
23 Viktor Šklovskij: Kunst als Kunstgriff. [1916] In: V. S.: Theorie der Prosa (Anm. 15), S. 7 – 27,
hier S. 14.
24 „Analytisches Vokabular“ verwendet Handke dabei, so Christoph Bartmann: Suche nach
Zusammenhang. Handkes Werk als Prozeß. Wien: Braumüller 1984, S. 129, „vor allem zur
Aufdeckung Manier gewordener narrativer Klischees“. Vgl. dazu Lorenz: Pro domo (Anm.
7),
S.
410: „Er wollte, mit immer neuen Schreibansätzen, die ‚Macht‘ der im menschlichen Leben
tief verwurzelten Automatismen brechen, die Schemata des Lebens kenntlich machen, um sich
von ihnen zu befreien.“
25 Handke: „Bücherecke“ vom 11. 10. 1965 (Anm. 17), S. 244.
26 Handke: Bei Abschied Regen (Anm. 6), S. 112. Einige Jahre später ist Handke in einem Inter-
view mit Günther Nenning noch einmal auf diesen Aspekt zurückgekommen. Vgl. Günther
Nenning: Warum ich jetzt Geschichten schreibe. [Gespräch mit Peter Handke.] In: Neue Freie
Presse (1973), H.
4, S.
7: „Da haben Schriftsteller halt das Wochenende beschrieben, und auto-
matisch kam das Klischee, daß die Sonne scheint, daß Autos gewaschen werden, daß es nach
Sonnenöl riecht, und einmal war halt eine Liebesgeschichte, eine traurige, da hat’s natürlich
geregnet. Es hat ja schon Tolstoi gesagt, daß bei trauriger Liebe immer Regen ist in der Litera-
tur. Das ist ein Montieren von Klischees.“
27 Friedrich Christian Delius: Der Held und sein Wetter. Ein Kunstmittel und sein ideologischer
Gebrauch im Roman des bürgerlichen Realismus. München, Wien: Hanser 1971.
„Aber ich bin kein Kritiker“ 225
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471